Chinas Handel nimmt Kurs auf Europa
Die USA verfolgen das Ziel Abhängigkeiten zu verringern, industrielle Kapazitäten zurückzugewinnen und Chinas wirtschaftliche Macht einzudämmen. Industriepolitik, Exportkontrollen und Zölle sind dabei zu geopolitischen Instrumenten geworden. Ein Umstand, den die Schweiz seit dem angekündigten Zollschock der USA – 39 % ab dem 7. August – mit Wucht zu spüren bekommt. Die Folgen dieser Politik zeigen sich in veränderten Handelsströmen: Die chinesischen Exporte in die USA sind allein im Mai 2025 um 35 % eingebrochen – der stärkste Rückgang seit der Pandemie. Trotz zwischenzeitlicher Zollsenkungen ist bisher keine vollständige Erholung der chinesischen Exporte in die USA erkennbar: Auch im Juni gingen die Seefrachtimporte im Vergleich zum Vorjahr um 28,3 % zurück.
Parallel steigt die Präsenz chinesischer Produkte auf anderen Märkten: Chinas Handelsüberschuss mit der EU erreichte in den ersten Monaten 2025 ein Rekordniveau von 90 Mrd. US-Dollar. Die EU-Importe chinesischer Waren stiegen im April um 8,2 %, im Mai erneut um 12 % gegenüber dem Vorjahr. Allein in Deutschland legten die Einfuhren im Mai um über 20 % zu. Die Zahlen deuten auf eine zunehmende Exportverlagerung als Reaktion auf die hohen US-Zölle hin. Dieser Umleitungseffekt - weg von den USA, hin zu Europa - verdeutlicht, wie geopolitische Spannungen lokale Marktverhältnisse grundlegend verschieben können.
From Trade War to Retail Shake-Up?

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Alte Probleme, neue Konkurrenz
Diese Entwicklung trifft den europäischen Einzelhandel in einer Phase struktureller Transformation. Schon seit Jahren steht die Branche unter erheblichem Anpassungsdruck: Der Donut-Effekt in den Innenstädten, Digitale Vertriebsmodelle, die wachsende Marktmacht internationaler Plattformen und ein zunehmend preisgetriebener Konsum - verstärkt durch die wirtschaftliche Unsicherheit der letzten Jahre - setzen das klassische Handelsmodell unter Druck. In diesem Umfeld wirken die geopolitischen Verwerfungen wie ein Katalysator. Neue Akteure und Vertriebssysteme verändern zunehmend die Konsumlandschaft.
Plattformen wie Temu und Shein drängen mit Nachdruck in europäische Märkte und weiten ihren Vertrieb massiv aus – mit einem Geschäftsmodell, das auf niedrige Preise und hohe Distributionsgeschwindigkeit ausgelegt ist. Temu zählt inzwischen mehr als 94 Millionen monatliche Nutzer in der EU – übertroffen noch von Shein mit über 130 Millionen.
Wie die Verschiebung der Warenströme, geschieht die chinesische Plattformoffensive nicht zufällig. Zwar begann die Expansion chinesischer Anbieter bereits vor der jüngsten Eskalation im Handelskonflikt mit den USA, doch die geopolitischen Spannungen verleihen ihr neuen Schub. Für viele chinesische Unternehmen wird der US-Markt zunehmend unberechenbar. Zölle und regulatorischer Druck erschweren das Geschäft. Im Mai 2025 sank Temus Umsatz in den USA gegenüber dem Vorjahr um 36 %, bei Shein waren es 13 %. Gleichzeitig investieren beide Unternehmen massiv in Werbung in Europa.
Ein weiteres aktuelles Beispiel für die Expansion chinesischer Anbieter ist das Übernahmeangebot des Tech-Konzerns JD.com für die Elektronikfachmärkte MediaMarkt und Saturn – die grösste Elektronikhandelskette Europas mit über 1 000 Filialen. Es verdeutlicht, dass sich das Engagement chinesischer Unternehmen nicht allein auf den Onlinehandel beschränkt, sondern den europäischen Konsumgütermarkt insgesamt im Blick hat – mit dem möglichen Ziel, chinesische Produkte künftig stärker über stationäre Vertriebskanäle zu platzieren.

Navigating Uncertainty: Geopolitische Risiken meistern, Chancen gestalten
Wie Unternehmen auch in volatilen Zeiten resilient bleiben, zeigt Beatrice Weder di Mauro am 11. September an der Internationalen Handelstagung am GDI. Mit ihrer Forschung schlägt die renommierte Wirtschaftswissenschaftlerin die Brücke zwischen Wissenschaft, Politik und Wirtschaft.
Systemlücken und Plattformlogik
Dabei nutzen etliche chinesische Händler nicht nur regulatorische Spielräume, sondern auch bestehende Kontrolldefizite im Zollsystem. Bestellungen werden millionenfach als Einzelpakete per Flugzeug verschickt, was die zollrechtliche Erfassung erschwert. In der Schweiz treffen allein von den Onlinehändlern Temu und Shein täglich rund 100 000 Pakete am Flughafen Zürich ein. Zollbehörden stossen zunehmend an ihre Belastungsgrenzen, da die Warenflut nur stichprobenartig kontrolliert werden kann. Produkte gelangen oftmals zollfrei direkt zum Konsumenten, die Einhaltung von Produktstandards wird vielfach unterlaufen.
Gleichzeitig unterscheidet sich das ökonomische Fundament der Plattformen grundlegend vom klassischen Handel. Temu etwa erzielt einen beträchtlichen Teil seiner Einnahmen durch Werbung – etwa durch Anbieter, die dafür zahlen, ihre Produkte besonders sichtbar zu platzieren. Der lokale Handel konkurriert mit einem Geschäftsmodell, das gezielt Reichweite vermarktet und dank zusätzlicher Einnahmequellen auch bei geringen Margen tragfähig bleibt. Diese asymmetrischen Bedingungen verschaffen den Plattformen erhebliche Wettbewerbsvorteile. Der Erfolg von Temu und anderen Plattform-Anbietern sollte jedoch nicht nur auf Billigwaren und das Ausnutzen von Systemlücken reduziert werden. Er beruht ebenso auf Innovationskraft bei App-Design, Marketing und der effektiven Ansprache digitaler Konsumbedürfnisse.
Ruf nach Regulierung
In Brüssel und Bern wächst unterdessen der Regulierungsdruck. Die EU arbeitet an neuen Zollvorgaben, prüft strengere Produktkennzeichnungspflichten und verhandelt über die Einführung digitaler Zollabwicklungsregeln. In der Schweiz gilt seit 2025 eine Plattformbesteuerung für Importe. Doch wie effektiv diese Massnahmen wirken, bleibt offen.
Während europäische Regierungen versuchen, mittels regulatorischer Massnahmen Wettbewerbsfähigkeit herzustellen, expandieren chinesische Plattformen bereits in neue Bereiche. In Deutschland und der Schweiz weitet Temu sein Modell auf den Lebensmittelhandel aus und wirbt gezielt um heimische Anbieter. Gewonnene Reichweite wird gezielt genutzt, um sich in weiteren Märkten zu verankern. Das sichert eine dauerhafte Präsenz - auch wenn sich das Umfeld für chinesische Billigimporte verschlechtern sollte.
Gleichzeitig ist angesichts des regulatorischen Drucks wegen Verstössen gegen Produktsicherheit und Verbraucherrechte eine mittelfristige Professionalisierung keineswegs unwahrscheinlich. Das Beispiel Shein zeigt, wie sich eine Plattform vom Anbieter fragwürdiger Billigmode hin zu einem weitgehend regelkonformen Akteur entwickeln kann – mit CE-Kennzeichnungen und transparenteren Händlerstrukturen. Andere Anbieter könnten ähnliche Schritte der Anpassung gehen: So haben sich Plattformen bereits verpflichtet, gegen Produktangebote vorzugehen, die grundlegende Standards unterlaufen, und regulatorische Vorgaben im Bereich Plattformtransparenz und Händlerrückverfolgbarkeit nachzukommen; Temu hat beispielsweise angekündigt, in Zukunft Bestellungen vermehrt über Lagerhäuser in Europa abzuwickeln. Lokale Anbieter sollten sich auf strengere Regulierung also nicht verlassen. Selbst wenn sich bestehende Wettbewerbsvorteile langfristig abschwächen, könnten die Plattformen das Ziel einer nachhaltigen Etablierung längst erreicht haben.
Geopolitik als Treiber neuer Marktlogiken
Die Entwicklung im Handel zeigt, wie eng geopolitische Konflikte, wirtschaftliche Rahmenbedingungen und Marktverhalten miteinander verwoben sind. Die protektionistische Ausrichtung der USA setzt nicht nur einzelne exportorientierte Branchen unter Druck. Offene Volkswirtschaften wie die EU und die Schweiz geraten doppelt unter Stress: Einerseits gilt es, globale Handelsbeziehungen offen zu halten. Andererseits geraten sie zunehmend ins Visier der Konkurrenz aus Fernost. Steigende Kosten, nachlassendes Wachstum und sinkende Kaufkraft verstärken diesen Effekt. Denn je grösser der wirtschaftliche Druck auf Haushalte wird, desto attraktiver erscheinen preisgünstige Plattformangebote – selbst wenn sie auf Geschäftsmodellen beruhen, die den lokalen Handel oder Verbraucherschutz untergraben.
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