GDI: Frau Schäfer, Sauerkraut im Norden, Foie Gras im Westen, der Röstigraben dazwischen – sind die regionalen Traditionen der Esskultur nicht eher das, was uns trennt als was uns verbindet?
Christine Schäfer: Als Forscherin muss ich natürlich sagen: Es kommt drauf an. Pizza, Pasta und Döner gibt es inzwischen ja überall – und Fondue wird auf beiden Seiten des Röstigrabens genossen. Esskultur kann also verbinden oder trennen; sie kann Food-Innovationen fördern oder bremsen. Genau mit dieser Spannweite hat sich unsere Studie beschäftigt, unter anderem durch eine repräsentative Befragung von 2100 Konsument*innen aus der Schweiz und den angrenzenden Regionen der Nachbarstaaten Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich.
Wo sind denn die Unterschiede grösser: zwischen den Sprachräumen (etwa zwischen Tessin und dem Rest der Schweiz) oder zwischen den Staaten – etwa zwischen Tessin und Norditalien?
Mal so, mal so. Wir haben zum Beispiel für eine ganze Reihe von regionalen Spezialitäten abgefragt, wie beliebt sie sind. In einigen Fällen verlaufen dabei die Unterschiede entlang der Sprachgrenzen: So waren die deutschsprachigen Befragten sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland und Österreich mit dem Tafelspitz vertraut, hatten hingegen nur begrenzt Lust darauf, Austern zu probieren – in den französischen und italienischen Sprachräumen war es genau umgekehrt. In anderen Fällen läuft die Segmentierung entlang der Landesgrenzen: So gehören etwa Raclette und Fondue definitiv zur gesamten Schweiz, von Basel über Montreux bis Lugano.
Und gibt es auch Fälle von sprachlichen und gleichzeitig nationalen Unterschieden bei der Esskultur?
Auch das. Hier ist der Apéro ein Beispiel. Er wird im deutschsprachigen Raum viel seltener zelebriert als im französischsprachigen – aber in der Deutschschweiz viel häufiger als in Süddeutschland oder Vorarlberg. Ein anderes Beispiel ist die Bereitschaft, beim Essen gerne einmal etwas Neues auszuprobieren. Das italienischsprachige Tessin und die Romandie liegen hier vor der Deutschschweiz – aber die wiederum liegt deutlich vor Frankreich.
Beim Essen etwas Neues ausprobieren – ist das das entscheidende Kriterium für den Erfolg von Food-Innovationen?
Die Probierbereitschaft – der Fachbegriff heisst «Willingness to try» – ist zentral dafür, dass der Erstkontakt mit einem neuen Produkt überhaupt stattfindet. Er gelingt am besten bei genuss-orientierten Menschen und bei Anlässen, die zu Sharing und Probieren einladen. Doch um eine Food-Innovation in den Ernährungsalltag zu integrieren, muss sie eine ganze Reihe von Qualitäten erfüllen, unter anderem in Punkto Gesundheit, Transparenz und Preis.
Und wie knackt man diejenigen, die noch nie etwas anderes gegessen haben, und schon gar nichts Fremdes?
In Märkten mit stark verwurzelter Esskultur empfiehlt sich eine behutsame Anpassung an lokale Geschmacksvorlieben und Traditionen. Der Einsatz regionaler Zutaten und die moderne Interpretation traditioneller Gerichte können dabei als Brücke zwischen Innovation und Tradition dienen. Ein schönes Beispiel hierfür ist Ciabatta.
Das traditionelle italienische Weissbrot mit den grossen Poren?
Genau das – nur ist es nicht «traditionell», sondern wurde im Jahr 1982 von dem Bäcker Arnaldo Cavallari im norditalienischen Rovigo erfunden. Hier diente Innovation zur Evolution traditioneller Esskultur, nicht zur Revolution.
Ist das ein Rezept für alle Food-Innovatoren?
Je nach Kontext darf es auch mal revolutionärer sein. Erfolgreiche Food-Innovationen nutzen kulturelle Dimensionen als Hebel für die Markteinführung. Sie verstehen lokale Traditionen nicht als Hindernis, sondern als Gestaltungsrahmen.
Die Studie «Decoding Food Culture: Wie Innovationen zu Traditionen werden» steht kostenlos zum Download bereit.
Christine Schäfer ist Senior Researcher und Referentin am GDI Gottlieb Duttweiler Institut und analysiert gesellschaftliche, wirtschaftliche und technologische Veränderungen mit den Schwerpunkten Food, Konsum und Handel.