Das Framework GDI Major Shifts beschreibt 20 Entwicklungen in den fünf Dimensionen Gesellschaft, Geopolitik, Wirtschaft, Technologie und Umwelt. Wieso gerade diese fünf?
Joschka Proksik: Sie bilden gewissermassen die Grundachsen unserer Welt ab. Also wie die Menschen zusammenleben, wie die Macht global verteilt ist, wie wir wirtschaften, welche Technologien uns prägen und wie wir mit unserer natürlichen Umwelt in Beziehung stehen. Gleichzeitig sind das die zentralen Kräftefelder, in denen sich unsere Zukunft tatsächlich bewegt.
Joschka J. Proksik
Senior Researcher und Speaker am GDI
Als promovierter Politikwissenschaftler analysiert er die Wechselwirkungen zwischen Geopolitik, Wirtschaft, Gesellschaft, Umwelt und Technologie.
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Wie habt ihr die Relevanz der aufgenommenen Themen sichergestellt?
Joschka Proksik: Zu Beginn haben wir eine Vielzahl von Entwicklungen genau untersucht, deren Vergangenheit beleuchtet und in Cluster zusammengefasst. Für die Aufnahme in unser Framework mussten vier wichtige Charakteristika erfüllt sein. Erstens müssen die Entwicklungen empirisch belegbar sein. Zweitens müssen sie über einen längeren Zeithorizont bestehen und eine klare Entwicklungsgeschichte aufweisen. Ein kurzfristiger Hype fällt dabei weg. Drittens hat jeder der 20 Shifts einen systemischen oder strukturellen Effekt auf Märkte, Politik und Gesellschaft. Viertens war uns wichtig, dass die Entwicklungen über ihre jeweilige Dimension hinaus Wirkung entfalten. Diese übergreifende Wirkung entsteht häufig durch ihre Verzahnung untereinander. So können wir die Komplexität der Welt besser abbilden.
Können die Shifts also nicht einzeln betrachtet werden?
Joschka Proksik: Doch. Aber in unserer hochkomplexen, global vernetzten Welt passiert kaum etwas isoliert. Für eine langfristige Planung ist es daher umso wichtiger, grosse Entwicklungen und strukturelle Veränderungen als Gesamtes im Blick zu haben. Nur so werden Muster und Wechselwirkungen sichtbar. Etwa wie ein technologischer Durchbruch politische Machtverhältnisse verändert. Oder wie die Klimakrise wirtschaftliche Modelle beeinflusst. Das sieht man mit einer Sammlung einzelner Megatrends nicht.
Haben Trends ausgedient?
Joschka Proksik: In meinen Augen dienen Trends eher als kurzfristige Indikatoren. Sie beschreiben oft nur, was gerade im Hier und Jetzt passiert. Die GDI Major Shifts zeigen, wohin sich etwas bewegt, welches Paradigma sich verschiebt und welche Folgen das auch für andere Bereiche hat. Wer sich mit den Shifts auseinandersetzt, erkennt schnell Spannungsfelder und Synergien.
Hast du ein Beispiel für eine Wechselwirkung zwischen den Entwicklungen?
Joschka Proksik: Wenn wirtschaftliche Rahmenbedingungen und technologische Fortschritte den Umstieg auf saubere Energie und zirkuläre Produktionsformen ermöglichen, hat dies direkte Auswirkungen auf den Klimawandel, die Ressourcenverfügbarkeit oder den Wasserstress. Durch diese positive Rückkopplung können sich Entwicklungen gegenseitig verstärken oder abschwächen. Dieses zunehmende Ineinandergreifen von Entwicklungen stellt selbst einen tiefgreifenden Wandel dar, den wir in den Major Shifts «Hyperkonnektivität» und «Polykrise» beschreiben, wobei letztere die negativen Formen solcher Rückkopplungen sichtbar macht.
Welche Shifts sind gerade hochrelevant?
Joschka Proksik: Alle (lacht). Aber natürlich gibt es Phasen, in denen einzelne Themen die Gegenwart besonders stark prägen. Derzeit trifft das unter anderem auf den geopolitischen Bereich zu. Wir befinden uns im Übergang zu einem multipolaren, internationalen System, das zwar derzeit von zwei grossen Machtpolen geprägt ist, zugleich jedoch durch weitere eigenständige Akteure beeinflusst wird. Das verändert gerade die Spielregeln der globalen Politik und der Wirtschaft. Machtzentren verschieben sich, neue Allianzen entstehen und alte Ordnungen geraten ins Wanken – das schafft Unsicherheit, aber auch eine neue Dynamik.
Ein zweites Beispiel ist der Shift «Wasserstress». Die zunehmende Knappheit und Ungleichverteilung von Wasserressourcen ist zwar kein neues Thema, aber es wird immer dringlicher. Wasser wird weltweit zur umkämpften Ressource, und wir sehen bereits, wie daraus neue Spannungen entstehen, zuletzt etwa rund um das Indus-Wassersystem zwischen Indien und Pakistan oder um den Nil zwischen Ägypten und Äthiopien. Selbst in Regionen, die lange als stabil galten, wird Wasserknappheit spürbar. So etwa auch in Europa, wo insbesondere im mediterranen Raum Dürreperioden immer mehr Schäden anrichten.
Und künstliche Intelligenz?
Joschka Proksik: Die «Infrastrukturalisierung von KI» ist ein Major Shift, der die Welt zunehmend verändert, da KI immer tiefer in zentrale Lebensbereiche hineinwirkt, von urbaner Infrastruktur über Medizintechnik und Landwirtschaft bis hin zu maschineller Fertigung und modernen Sicherheits- und Militärtechnologien. Darum hat KI auch tiefgreifende Auswirkungen auf mehrere Major Shifts. Besonders stark ist der technologische Umbruch beispielsweise im Shift «Automatisierte Mediensysteme» spürbar. Dort bestimmen KI-basierte Systeme zunehmend, was sichtbar ist, worüber wir sprechen und letztlich, wie wir Entscheidungen treffen. Das wird auch Thema unseres nächsten Europäischen Trendtags am GDI sein, bei dem wir darüber sprechen, wie wir in dieser Informationsflut den Fokus behalten und mit relevanten Inhalten die Aufmerksamkeit zurückgewinnen.
Wie übersetzt ihr die Entwicklungen für Unternehmen?
Joschka Proksik: In enger Zusammenarbeit mit dem Strategic Foresight Team des GDI prüfen wir, welche Shifts für die Branche und das strategische Umfeld des jeweiligen Unternehmens besonders relevant sind. Dabei nutzen wir bewusst den Blick von aussen, um mögliche blinde Flecken zu erkennen. Anschliessend identifizieren wir die Effekte der einzelnen Shifts, welche Kräfte sie künftig antreiben oder abschwächen könnten und wie sie sich auf das spezifische Unternehmen auswirken. Daraus lassen sich im Foresight Prozess plastische Zukunftsbilder erstellen, die den Entscheidungskontext konkret für ein Unternehmen abstecken.
Was fasziniert dich besonders an der Arbeit mit den GDI Major Shifts?
Joschka Proksik: Das unglaublich breite Themenspektrum, das diese gesamtheitliche Betrachtung im Framework mit sich bringt. Erfreulich ist es auch, wenn sich unsere Erwartungen bestätigen. Auf Grundlage unserer empirischen Beobachtungen leiten wir häufig bestimmte Verbindungen und Wechselwirkungen zwischen den Shifts und den Herausforderungen von Wirtschaft und Unternehmen ab und können dann mitunter sehen, wie sie tatsächlich eintreten. Das ist jedes Mal eine Bestätigung für die analytische Tragfähigkeit und praktische Anwendbarkeit unseres Frameworks.
