Wir alle leben in unseren eigenen Blasen. Manche sind klein, manche sind grösser, aber es sind trotzdem Blasen. Um die Zukunft zu verstehen, müssen wir wissen, was ausserhalb dieser Blasen passiert. Welche Trends verlaufen unterhalb unseres Radars? Welche Innovationen ignorieren wir oder schenken ihnen nicht genug Aufmerksamkeit? Um unseren eigenen Horizont zu erweitern, interviewen wir Lebensmittelexperten und befragen sie zu den Trends, über die wir ihrer Meinung nach zu wenig sprechen.
Wir beginnen diese Interviewreihe mit Björn Witte, geschäftsführender Gesellschafter und CEO von Blue Horizon. Das Unternehmen investiert in ein neues nachhaltiges Nahrungsmittelsystem mit einem durchgängigen Ansatz, der über alternative Proteine hinausgeht – angefangen bei besseren Anbaumethoden bis hin zu nachhaltiger Verpackung und intelligenterem Vertrieb.
Björn Witte ist Referent an der 2. International Food Innovation Conference vom 15. Juni 2022. Jetzt Ticket sichern!
GDI: Über welche Lebensmittel-Innovationen sprechen wir nicht genug?
Björn Witte: Ich glaube, die Präzisionsfermentation ist ein Thema, das noch nicht die Aufmerksamkeit bekommt, die es verdient. Es gibt immer mehr Unternehmen für alternative Proteine, die die Fermentation auf innovative Weise nutzen, um Produkte herzustellen, die den unverwechselbaren Geschmack und die Beschaffenheit von tierischen Produkten bieten, ohne dass dafür Tiere gehalten werden müssen.
Die Fermentierung ist ein unglaublich effizienter Prozess. Er ermöglicht ein sehr schnelles Wachstum der Proteine – manchmal verdoppelt sich die Grösse innerhalb von Stunden, während es bei Tieren Monate oder Jahre dauert.
Das bedeutet, dass Fleisch und andere alternative Proteine, die durch Fermentation hergestellt werden, im Vergleich zur Tierhaltung weniger ressourcenintensiv sind. Sie haben das Potenzial, Treibhausgasemissionen, Abholzung, Verlust an biologischer Vielfalt, Wasserverbrauch, Wasserverschmutzung, Antibiotikaresistenz und lebensmittelbedingte Krankheiten zu verringern.
Welche heute noch unbekannten Lebensmittel werden in Zukunft auf unseren Tellern landen?
Ich würde sagen, kultiviertes Fleisch. Es ist in Bezug auf Geschmack, Konsistenz und Nährwert identisch mit herkömmlichem Fleisch, wird aber nicht geschlachtet. Stattdessen wird es aus echten tierischen Zellen hergestellt, die mit den notwendigen Nährstoffen und Umgebungsbedingungen versorgt wurden, um zu einem Stück Fleisch heranzuwachsen.
Im vergangenen Jahr hat das Medieninteresse an diesem Bereich stark zugenommen, und viele weitere Unternehmen haben sich der Startup-Szene angeschlossen, was zu einem gesunden Wettbewerb geführt und Innovationen gefördert hat.
Eines unserer Portfoliounternehmen, Mosa Meat, machte kürzlich internationale Schlagzeilen, weil Leonardo DiCaprio in das Unternehmen investierte. Außerdem gab das Unternehmen vor einigen Monaten bekannt, dass es die Kosten für seine Fettmedien um das 66-fache gesenkt hat. Mosa Meat ist ein bekanntes Unternehmen, weil es 2013 den ersten kultivierten Hamburger der Welt hergestellt hat – für kühle 325'000 USD. Da Mosa Meat die Kosten für seine Wachstumsmedien senkt, verschiebt es die Grenzen der Innovation immer weiter, was letztlich zur Skalierbarkeit eines lebensfähigen Produkts auf globaler Ebene führen wird.
Ein anderes Portfoliounternehmen von uns, SuperMeat mit Sitz in Israel, hat letztes Jahr die weltweit erste kommerzielle Plattform für gezüchtetes Geflügel namens «The Chicken» vorgestellt. Heute haben Sie die Möglichkeit, im «The Chicken» zu speisen und gleichzeitig einen Blick in die Fabrik von SuperMeat zu werfen, wo Sie sehen können, wie Ihre Hähnchen-Burger unter demselben Dach hergestellt werden.
Welche Entwicklungen, die um Sie herum geschehen, ignorieren Sie absichtlich? Und warum?
Bei Blue Horizon sehen wir uns nichts an, was Tiere in irgendeiner Weise einschließt. Das gibt uns eine sehr klare rote Linie, wo unser Investitionsuniversum endet. Es gibt eine Menge grossartiger Projekte, die die Nachhaltigkeit in verschiedenen Bereichen verbessern, z. B. nachhaltige Lachs- oder Grillenfarmen. Sobald es jedoch um Tiere geht, sind wir per Definition raus.
Gibt es eine wichtige Ressource für das Lebensmittelsystem, die heute noch unterschätzt wird?
Es gibt immer noch einen Mangel an Wissen darüber, wie viele Ressourcen tatsächlich benötigt werden, um ein bestimmtes Stück Fleisch zu produzieren. Mehr als die Hälfte aller bewohnbaren Flächen auf der Erde wird für die Landwirtschaft genutzt, und 77 % davon entfallen auf die Viehzucht zur Erzeugung von Fleisch und Milchprodukten. Die Wassermenge, die für die Produktion von 1 kg Rindfleisch benötigt wird, beträgt mehr als 15 000 Liter. Diese Zahlen sind enorm. Auf die Tierhaltung entfallen 23 % des gesamten Süsswasserverbrauchs in der Welt. Wenn wir davon ausgehen, dass im Jahr 2050 fast 10 Milliarden Menschen auf diesem Planeten leben werden, können wir einfach nicht so weitermachen wie bisher. Wir müssen nachhaltigere Lösungen finden und neue nachhaltige Lebensmittelsysteme aufbauen, die für uns, die Tiere und unseren Planeten funktionieren.
Werden die Lebensmittelpreise steigen oder sinken und warum?
Ich glaube, dass die Preise für tierische Proteine langfristig steigen werden, während sie für alternative Proteine sinken werden. Heute gibt es in vielen Ländern eine Menge Subventionen für die Fleischproduktion und sogar Werbung. Das muss sich ändern, und das wird es auch. Die traditionelle Fleischindustrie hat eine natürliche Untergrenze erreicht, was die Effizienz ihrer Prozesse angeht. Alles ist supereffizient, und es bleibt nicht mehr viel Spielraum, um zusätzliche Gewinnspannen herauszuquetschen. Alternative Proteine hingegen stehen noch ganz am Anfang eines Jahrzehnts starken Wachstums, gepaart mit Effizienzsteigerungen. Gemeinsam mit BCG sagen wir voraus, dass alternative Proteine in den nächsten 10 Jahren mindestens 11 % – wenn nicht sogar das Doppelte – des globalen Proteinmarktes erobern werden. Das Erreichen der Preisparität ist für die allgemeine Akzeptanz von entscheidender Bedeutung, da die Verbraucher eher bereit sind, eine neue pflanzliche Option auszuprobieren, die nicht viel teurer ist als ihr tierisches Gegenstück.
Welche Unternehmen/Startups/Köche sind die vielversprechendsten Newcomer oder Game Changer?
Bei Blue Horizon sehen wir uns jedes Jahr Hunderte interessanter Unternehmen an, und da wir uns in der Vergangenheit ausschließlich auf diesen Bereich konzentriert haben, verfügen wir über einen unvergleichlichen Einblick in den Markt für alternative Proteine und Agrartechnologie. Es ist immer schwierig, wenn nicht gar unmöglich, «vielversprechende Newcomer» zu benennen.