Der nachfolgende Text basiert auf einem Auszug aus dem «European Food Trends Report 2021», der über unsere Website bezogen werden kann.
Wenn Wörter wie «Keim», «Virus» oder «Bakterium» fallen, geht bei vielen Menschen ein rotes Lichtlein an. Das ist evolutionär gesehen in gewissem Masse sinnvoll. Menschen ekeln sich vor schmierigen Türklinken, vor dreckigen Toiletten oder vollgerotzten Taschentüchern. Denn überall dort lauern potenzielle Krankheitskeime. In Zeiten einer Pandemie ist die Vorsicht noch ausgeprägter. Hygiene hat oberste Priorität: Händewaschen, desinfizieren, Abstand halten – wie ein Mantra werden diese Regeln seit März 2020 wiederholt.
Doch alle drei Regeln haben nicht nur Einfluss auf unseren Kontakt mit Viren, sondern auch auf den mit allen anderen Mikroorganismen. Und Mikrobiologen wie der Kieler Forscher Thomas Bosch befürchten, dass die Bedeutung eines vielfältigen Mikrobioms – die Mikroorganismen unseres Körpers – durch diese starke Aufmerksamkeit für das Virus in Vergessenheit geraten könnte. «Wir haben uns jetzt zehn Jahre darum bemüht, diese Bedeutung hervorzuheben und bekannt zu machen. Und jetzt kommt die Chemie-Keule: Die italienischen Strassen wurden mit Giften bedampft, und in den Kirchen wurden die Madonnen besprüht – das waren gruselige Bilder», sagt er. Gruselig für jemanden, der weiss, dass unter den wenigen für uns schädlichen Keimen auch ungezählte Keime sind, die wir für unsere körperliche und mentale Gesundheit brauchen.
Graham Rook, emeritierter Mikrobiologe am University College London etwa, vergleicht das Immunsystem mit einem Computer. Die Mikroben, denen wir Tag für Tag begegnen, so sagte er gegenüber der «New York Times», seien jene Daten, die das Immunsystem benötige, um seine Funktionen zu programmieren und zu regulieren.
Auch die Schwere von COVID-19-Erkrankungen hängt unter anderem mit dem Mikrobiom der Infizierten zusammen. Ein hohes Risiko für schwere Verläufe wurde von Anfang an unter anderem für Übergewichtige und DiabetikerInnen dokumentiert. Hier, so könnte man sagen, beisst sich die Katze in den Schwanz: Hygiene und Abstand schützen uns einerseits vor den SARS-CoV-2-Viren. Allerdings schaden sie unserem Mikrobiom, das uns wiederum vor schweren Verläufen der COVID-19-Erkrankung bewahren kann. Es bleibt daher immer abzuwägen: Hygiene kann vor gefährlichen Keimen und Erkrankungen schützen. Wird sie übertrieben, macht sie uns aber ebenfalls krank – auf eine vielleicht subtilere, schwerer nachvollziehbare Weise, aber nicht unbedingt weniger schwerwiegend.
GDI-Studie Nr. 50 / 2021
Sprache: Deutsch, Englisch
Format: PDF, 50 Seiten