«Das wäre das Ende von Fast Fashion in Europa»

Der Aufstieg von Temu, Frankreichs Anti-Fast-Fashion-Gesetzt und das Recht auf Reparatur – GDI-Forscher Dr. Gianluca Scheidegger gibt eine Einschätzung zu Entwicklungen im Bekleidungshandel.
19 August, 2024 durch
«Das wäre das Ende von Fast Fashion in Europa»
GDI Gottlieb Duttweiler Institute
 

GDI: In Frankreich stimmten die Abgeordneten der Nationalversammlung einstimmig für einen Gesetzesentwurf gegen Ultra-Fast-Fashion, der Werbeverbote und Strafgebühren von bis zu 50 Prozent des Verkaufspreises vorsieht. Ist das der richtige Weg, das Problem zu lösen?
Dr. Gianluca Scheidegger: Um das eigentliche Problem des übermässigen Ressourcenverbrauchs durch Überkonsum zu lösen, bedarf es mehr als ein blosses Werbeverbot. Es ist jedoch eine Massnahme, die relativ einfach zu implementieren und durchzusetzen ist, verglichen mit der Kontrolle von Produktionsbedingungen im Ausland oder der Zusammensetzung der Rohstoffe importierter Textilien. Viel weiter geht jedoch die “EU strategy for sustainable and circular textiles”. Bis 2030 müssen gemäss dieser Strategie alle Textilprodukte auf dem EU-Markt reparierbar, aus recycelten Fasern hergestellt, frei von schädlichen Substanzen, langlebig und vollständig recycelbar sein und unter sozial und umweltverträglichen Bedingungen hergestellt werden. Das wäre das Ende von Fast Fashion in Europa.

Wie können Konsumenten und Konsumentinnen – neben der Regulierung – dazu gebracht werden, ihren Konsum zu ändern?
Hier könnte es verschiedene Ansatzpunkte geben. Zum einen fehlt es vielen Konsument*innen an Wissen darüber, was genau nachhaltig ist. Sprich: Welche Faktoren ihres Konsums welchen Umwelteinfluss haben: Rohstoffe, Art der Verarbeitung, Transportweg, Retourenabwicklung, Tragedauer, Waschhäufigkeit etc. Eine andere Lösung wäre die Subvention von nachhaltigem Konsum.

Die boomende Fast-Fashion-Industrie steht im krassen Gegensatz zum ebenfalls boomenden Second-Hand-Markt. Wie lässt sich dieser Widerspruch erklären?
Die Konsumentenstimmung ist nach wie vor tief. Günstige Konsumalternativen sind derzeit hoch im Kurs. In gewisser Weise sehe ich deshalb keinen starken Widerspruch, sondern Gemeinsamkeiten. Sowohl auf Plattformen wie Temu als auch in Second-Hand-Läden kann man relativ günstig einkaufen.

Bezüglich Nachhaltigkeit könnten Fast-Fashion und Second-Hand natürlich nicht unterschiedlicher sein: Second-Hand ist in den meisten Fällen nachhaltiger als Primärkonsum und Fast-Fashion benötigt grosse Mengen an Ressourcen und verursacht Berge an Abfall. Während ein zunehmender Teil der Bevölkerung den ökologischen Fussabdruck des Konsums reduzieren möchte, scheint es viele nicht gross zu kümmern (oder ihnen fehlt das Wissen), dass ihr Überkonsum die Umwelt belastet. Aber auch hier gibt es Parallelen. Ein so grosses Angebot an qualitativ hochwertiger, teilweise nur selten getragener Second Hand-Kleidung kann nur existieren, wenn die Menschen mehr kaufen und besitzen, als sie tatsächlich brauchen.

Ist es unter dem Nachhaltigkeitsaspekt wirklich so viel schlechter, wenn Konsument*innen bei Temu, Shein oder AliExpress bestellen, anstatt bei europäischen Grosshändlern?
Aus einem Nachhaltigkeitsaspekt ist es schwierig, den Geschäftsmodellen von Temu & Co. etwas Gutes abzugewinnen. Es ist jedoch nicht alles schlecht: Shein stellt die meisten Textilien erst «On-Demand» in relativ kleiner Stückzahl her. Das heisst, erst dann, wenn bestellt wurde. Dadurch entsteht bei der Produktion relativ wenig Überschuss. Bei vielen anderen Textilanbietern wird eine grosse Zahl an Kleidung hergestellt, ohne die genaue Nachfrage zu kennen. Dadurch läuft man Gefahr Kleidung zu produzieren, die nie verkauft oder getragen wird - die schlimmste Art von Ressourcenverschwendung. Zudem werden die Bestellungen bei Temu, SHEIN und Aliexpress direkt, meist ohne Umwege, vom Hersteller zur Konsumentin geschickt. Die Minimierung der Transportwege kann unter Umständen auch nachhaltiger sein – je nach Transportmittel natürlich. Da Temu bspw. oft per Luftfracht verschickt, verpufft jedoch der positive Effekt des direkten Transportwegs. 

Vergleich der Google-Suchanfragen

Die Abbildung zeigt die relativen Suchanfragen nach verschiedenen chinesischen Shopping-Plattformen von 2010 bis heute in der Schweiz. Wish und Aliexpress haben bereits vor über zehn Jahren in der Schweiz Fuss gefasst und Marktanteile gewonnen. Ihr Aufstieg galt damals als rasant. Dann kam SHEIN, das noch schneller massiv an Popularität zulegen konnte. Temu übertrifft jedoch alles. Keiner der drei Vorgänger konnte je so viele Suchen in der Schweiz verzeichnen. Quasi aus dem Nichts ganz an die Spitze.


Dr. Gianluca Scheidegger ist Senior Researcher und Speaker am Gottlieb Duttweiler Institut. Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler analysiert gesellschaftliche, wirtschaftliche und technologische Veränderungen mit den Schwerpunkten Handel und Konsumverhalten.

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