Peter Sloterdijk: Kulturen leiden am Gegeneinander von Tradition und Zukunft

Kulturen müssten anerkennen, dass sie zwar auf eine getrennte Vergangenheit zurückschauen, ihnen aber eine gemeinsame Zukunft bevorstehe. Dies sagte der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk im Interview mit der «Worldpost», anlässlich der Lancierung des GDI-Thought-Leader-Indexes.
7 März, 2018 by
Peter Sloterdijk: Kulturen leiden am Gegeneinander von Tradition und Zukunft
GDI Gottlieb Duttweiler Institute

Peter Sloterdijk © Berggruen Institute

WorldPost: Sie haben über das Rätsel einer synchronisierten Welt ohne gemeinsames Narrativ gesprochen. Ohne dieses gemeinsame Narrativ bricht die Welt wie beim Zusammenbruch des Turms zu Babel in einzelne Stämme auseinander. Jeder dieser Stämme hat sein eigenes Narrativ, das oft nationalistisch oder nativistisch ist. Was ist der Ursprung des Wiederauflebens dieser Stammesmentalität?

Peter Sloterdijk: Wir müssen uns zuerst fragen, ob das Gerücht über die Rückkehr der Stämme gerechtfertigt ist. Es stimmt, dass verschiedene Zivilisationen auf sehr unterschiedliche Narrative zurückgreifen, um sich ihre Lage in der Welt von heute zu vergegenwärtigen. Genauso, wie es eine grosse Vielzahl an Kalendern gibt – zum Beispiel bei den orthodoxen Christen, in den muslimischen Kulturen, in China oder im Iran –, die sich vom im Westen vorherrschenden Gregorianischen Kalender unterscheiden, treffen wir auf eine noch grössere Anzahl verschiedener lokaler Narrative, die die Ereignisse der Weltgeschichte beschreiben. Dies beschränkt sich nicht nur auf die Mythologie; auch bei historischen Narrativen, die von Zeitzeugen stammen, muss man mit einem gewissen Grad an Perspektivismus rechnen.

Es ist daher falsch, zu behaupten, die Welt breche in zahlreiche Stämme auseinander, als ob sie denn jemals zu einem gegebenen Zeitpunkt in einer allinklusiven Synthese vereint gewesen wäre. Was heute tatsächlich geschieht, ist der Zerfall der amerikanischen Klammer.

Nur innerhalb dieser halb imaginären, halb pragmatischen Projektion schien die Utopie einer alldurchdringenden Okzidentalisierung der Welt vorstellbar. Solche Konzepte haben sich inzwischen aus mehreren Gründen als illusorisch erwiesen, zum einen, weil sich die USA als Führungsmacht des Westens unter Präsident Trump zeitweilig eher abstossend als anziehend präsentieren, zum anderen, weil Europa bis auf Weiteres in einer relativen politischen Schwäche verharrt, und schliesslich, weil die Resilienz der regionalen Kulturen weltweit die Widerstände gegen die Angleichung an den Westen verstärkt – und dies nicht nur in der Arabosphäre, der Iranosphäre und der Turkosphäre, sondern auch in China, Indonesien, Mittelasien, Afrika und Lateinamerika. Die globale postkoloniale Situation gibt zahlreichen Manifestationen des antiokzidentalen Ressentiments Raum.

Es wäre ein gefährlicher Irrtum, die Summe dieser Tendenzen unter dem oft verächtlichen Begriff «Neotribalismus» zu resümieren. Dieser drückt mehr die Verlegenheit des hilflosen Universalismus aus als die Bereitschaft, sich mit den Tatsachen der Pluralität und der Multipolarität auseinanderzusetzen.
Zudem ist die Wichtigkeit der biblischen Geschichte vom Turm zu Babel weit weniger klar, als uns die christlichen Standardwerke glauben machen wollen.

Das «Zersplittern» des Volks in eine Vielzahl von Völkern mit unterschiedlichen Sprachen sollte nicht nur als Strafe für Überheblichkeit verstanden werden. Sie versinnbildlicht auch die Anerkennung und Wiederherstellung der ursprünglichen Pluralität, die bis zur erzwungenen Vereinigung aller Völker in dem imperialen Projekt des «Turms, der bis zum Himmel reicht» geherrscht hat. Man könnte die Geschichte sogar als Gottes Ablehnung der Arroganz der babylonischen Monopolarität verstehen und sich vorstellen, dass die Wiedergeburt der urzeitlichen Verschiedenheit des Völkerkaleidoskops ihm Freude bereitet hat.

Pieter Bruegel’s «The Tower of Babel». 1563. (© Google Arts & Culture)

WorldPost: Wenn diese Rückkehr der Pluralität in unserer Gegenwart nicht neu ist, was ist denn das Neue und Unvertraute an unserer Situation?

Sloterdijk: Das eigentliche zivilisatorische Problem liegt nicht im ethnischen Pluralismus mitsamt seinen Spiegelungen in lokalen Erzählungen, gleich, ob man diese nationalistisch oder nativistisch nennt; es zeigt sich vielmehr in der sich ständig vertiefenden Asymmetrie zwischen der Vergangenheit und der Zukunft innerhalb jeder einzelnen Kultur.

Man könnte in Bezug hierauf von einem immanenten Zusammenstoss zwischen Traditionalismus und Futurismus sprechen. Dieser vollzieht sich zwar auch an den Aussengrenzen der Kulturräume, jedoch noch mehr innerhalb der Kulturen selbst. Man darf wohl sagen, der Zwang zur Modernisierung sei heute das Schicksal, doch nicht alle Schicksale verlaufen gleich.

In makrohistorischer Sicht müssen sich alle Kulturen mit zwei umfassenden Verlegenheiten auseinandersetzen: zum einen mit der Tatsache, dass die Erde als ein endliches planetares Ökosystem erkannt ist und umweltpolitisch nur so in Regie genommen werden kann; zum anderen mit der Einsicht, wonach der Übergang vom Traditionalismus zum Futurismus allenthalben mehr oder weniger unausweichlich geschieht.

Das bedeutet, die vielen Kulturen müssen begreifen, dass sie auf überwiegend getrennte Vergangenheiten zurückschauen und auf überwiegend gemeinsame Zukünfte vorausblicken. Hierbei entsteht ein globaler Situationismus, der besagt, dass es keine angeborenen Eigenschaften gibt, sondern dass unsere Eigenschaften durch unsere Umwelt geformt werden, und bei dem die eine Erde als gemeinsamer Kulturenstandort in den Vordergrund kommt.

Die lokalen Erzählungen sind zunehmend gezwungen, die idiochronen Horizonte ihrer Geschichtskonstrukte mit dem virtuellen synchronen Horizont der gemeinsamen Weltzeit zu koordinieren. Umso besser, wenn aus solchen Anstrengungen multiperspektivische Entwürfe von Universalgeschichte entstehen.

«Pure Diversity» von Mirta Toledo. Verschiedene Materialien auf Baumwollpapier. Fort Worth, Texas. 1993. (© Mirta Toledo)

WorldPost: Sie haben bemerkt, dass eine Bedingung des globalen Zeitalters die sogenannte «connected isolation» sei. Die Herausforderung besteht also darin, eine Balance zwischen «connectivity» (Verbundenheit) und «isolation» (Isolierung, wörtlich «Inselbauen») zu finden. Wie sähe diese Balance aus?

Sloterdijk: Zum Gesamtbild der Modernität gehören Tendenzen zu steigender Individualisierung, und zwar bei stetiger Zunahme der Konnektivität. Man könnte es als das sehen, was der vorsokratische Philosoph Heraklit die «Abstimmung gegensätzlicher Spannung» nennt.

Während die Individuen ihre Unvergleichlichkeit immer stärker betonen, werden sie in ständig steigendem Ausmass von sozialer Arbeitsteilung, von Geldwirtschaft, von Kommunikationsdiensten und von der Teilhabe an Informationsströmen jenseits der Nachbarschaften abhängig. Der Architekt Thom Mayne hat diesen Sachverhalt aus der Perspektive der Architekturtheorie schon vor Jahrzehnten mit der Formel «connected isolation» beschrieben.

Der luzide Ausdruck lässt sich ohne Weiteres auf einen starken Trend in den zeitgenössischen Wohnverhältnissen beziehen: Statistiken zeigen, dass immer mehr Bewohner von westlichen Metropolen alleine leben.

Eine deutliche Mehrheit solcher Singles erklärt, sie empfänden sich als sozial ausreichend integriert, ja, sie heben die Vorzüge ihrer Lebensart hervor. Wie keine andere gewährt sie die Vorzüge frei gewählter Nähe mit dem Komfort der Distanz.

In diesem Zusammenhang werden wir auf einen Aspekt des Tribalismus-Phänomens aufmerksam, der in den üblichen Kritiken der modernen Kondition nur eine untergeordnete Rolle spielt. Die historische Anthropologie verweist auf die Tatsache, dass sich die Evolution des Homo sapiens ursprünglich in kleinen Gruppen abgespielt habe, die man gelegentlich als Horden bezeichnet – wahlweise auch als Stämme oder Clans. Der Mensch wäre demnach seinem anthropologischen Design gemäss zunächst ein Kleingruppen-Wesen, das erst sehr spät, in der Ära der frühen Völker und Königsherrschaften, zur Koexistenz mit Volksgenossen in grösser formatierten sozialen Verbänden umerzogen wurde.

Hierzu haben die Schriftkulturen und die Bildungssysteme der avancierten Zivilisationen Wesentliches beigetragen. Im spätantiken Hellenismus taucht das Konzept der «kosmopolis» auf – die kühne Gleichsetzung von Grossstadt und Weltall.

Die Bewohner dieser imaginären Grösse nennen sich Kosmopoliten. Die Idee der City im Universum orientiert sich an den Erfahrungen von Händlern, Seefahrern, Offizieren und von reisenden Intellektuellen. Ihr gemeinsames Interesse richtete sich auf eine Doktrin, die das Überall-leben-Können lehrte. Sie sahen den «Humanismus» als die Kunst, sich in der Fremde Freunde zu machen. Wer überall zu Hause sein kann, ist überall im Exil.

Aus dieser Sicht fungierte der «Humanismus» als Tribalismus für Leute im Aussendienst. Das impliziert auch, dass die Welt voll von Freunden ist, die man noch nicht kennt. Schon der antike Humanismus nahm Rücksicht auf die Tatsache, dass gerade der Mensch, der nicht zu Hause ist, dazu neigt, einen Ersatz für die primäre Kleingruppen-Umwelt um sich herum zu rekonstruieren – es sei denn, er habe die Lebensform der eremitischen Askese gewählt, die einer heiligen Asozialität zum Vorwand dient.

Aus dieser Sicht wird evident, dass die individualistischen Lebensformen der Gegenwart unweigerlich mit einer verstärkten telekommunikativen Konnektivität einhergehen müssen – anders liessen sich der durchschlagende Erfolg von Techniken der erweiterten Telefonie sowie die überbordende Flut der sozialen Netzwerke nicht erklären.

Riesmans Diagnose der einsamen Masse beschreibt, wenn überhaupt, nur die halbe Wahrheit. Ein Gutteil der Lebensenergien von Individuen in den Gefügen der «connected isolations» fliesst in die Errichtung von selbstgewählten informellen «Stämmen» aus Freundschaften, Bekanntschaften und Mitgliedschaften in lokalen Assoziationen, sei es mit postalischen oder anderen telekommunikativen Mitteln. Sie helfen den räumlich Alleinlebenden, aus der idiochronen Isolierung ihrer Wohnungen auszubrechen, um an der gemeinsamen Zeit eines Netzwerks von Zeitgenossen teilzuhaben.

Wo solche spontanen «Stammes»-Bildungen fehlen, kommt es zu sozial und politisch problematischen Situationen. In ihnen werden desorientierte und entwurzelte Einzelne von absorbierenden Massenbewegungen angezogen, die eine Heimat in abstrakten Engagements versprechen. Die klassischen Analysen zum Phänomen des Totalitarismus haben offengelegt, dass die unverbundenen Isolierten in erhöhter Gefahr sind, von totalitären Programmen und autoritären Führer-Figuren verführt zu werden.

Wo die intermediären Instanzen sozialer Vernetzung ausfallen – nennen wir sie die spontanen quasi-tribale Milieus –, dort wächst die Gefahr, dass sich verlorene Einzelne mit pseudo-kommunitarischen Ideologien nationalistischer Machart und mit absorbierenden Sekten identifizieren.

WorldPost: Nehmen wir den besonderen Fall von Deutschland. Zum ersten Mal seit der Nazi-Ära ist es einer nationalistischen Partei, der Alternative für Deutschland, gelungen, in den Bundestag einzuziehen. Was steckt hinter dieser Entwicklung in Deutschland? Wo führt das Ihrer Meinung nach hin? Was bedeutet es für die deutsche Identität?

Sloterdijk: Die Beobachtungen, die ich gerade zur «connected isolation» geäussert habe, lassen sich – auch wenn sie mit grosser Vorsicht genossen werden sollten – auf die neonationalistischen Phänomene, wie sie sich in Deutschland seit 2010 entwickeln und die 2013 zur Schaffung der AfD-Partei geführt haben, anwenden. Der Name der neuen Partei macht deutlich, wie das Motiv der «Alternative», das 1977 vom radikalen ostdeutschen Umweltaktivisten Rudolf Bahro als Kritik am «realen Sozialismus» eingeführt wurde, von der politischen Rechten adoptiert und von seiner ursprünglichen Bedeutung weggeleitet wurde. Dieses Manöver zeigt, wie die «Dissidenten» das Lager gewechselt haben und Teil der rechtspopulistischen Strömung geworden sind. Neben der klassischen Linkspartei, der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die schon lange zu einer Mittepartei geworden ist, ist die AfD die einzige der grösseren Gruppierungen im Parlament, deren Name das Wort «Deutschland» beinhaltet.

Die Normalisierung der Partei als ein Teil des Parlaments lässt vermuten, dass sie bald viel an Attraktivität verlieren wird, besonders als ein Ventil für Proteste. Man kann jedoch sagen, dass sie bereits ihre Spuren im politischen Klima hinterlassen hat, indem sie mehr Raum für unbestraften Spott sowie hemmungslose und brutale Äusserungen geschaffen hat. In vieler Hinsicht ist die Partei das politische Gegenstück zu unkontrollierten Hassreden in den Sozialen Medien.

Wenn das Emporkommen der AfD eines beweist, dann dass die bisher scheinbar unverletzliche kulturelle Hegemonie des linksliberalen Blocks in Deutschland an Boden verloren hat. In dieser Hinsicht ähnelt die Situation der deutschen Intelligentsia jener der Demokraten in den Vereinigten Staaten, denen es bis jetzt nicht gelungen ist, eine Erklärung für Präsident Donald Trumps Wahlsieg und seine bizarre Regierungsart zu finden.

Doch während wir in den USA eine unaufhaltbare Verwandlung des öffentlichen Raums in eine «Unterhaltungsgesellschaft» beobachten können, ist damit zu rechnen, dass Deutschland und dem Rest von Westeuropa sowie Südeuropa ein langer Weg zum Mittelmass bevorsteht. Der osteuropäische Gürtel, von Polen bis Ungarn, ist für die liberale Demokratie bis auf Weiteres verloren. Nur die Extravaganz des jungen französischen Präsidenten Emmanuel Macron gibt Anlass zur Hoffnung, dass der Stern der Freiheit in der alten Welt immer noch einen gewissen Glanz hat.



Dieses Interview wurde im Rahmen des Global Thought Leader Index 2018 auf The WorldPost veröffentlicht.

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