Weniger Fleisch, weniger Zucker, weniger Alkohol, weniger Shopping, weniger Zeit auf den sozialen Medien. Dafür mehr Pflanzliches, mehr Sport, mehr Selbstgemachtes, mehr Wiederverwendetes, mehr analoge Kontakte, mehr Auszeiten vom Dauerstress. So jedenfalls die Entwicklungen der letzten Jahre. Nachhaltigkeit heisst das Zauberwort. Doch was sagen die Statistiken? Wird unser Konsum wirklich bewusster, oder ist das weiterhin bloss Nische und Wunschdenken?
Eine nachhaltige, pflanzenbasierte Ernährung scheint in aller Munde. Die Regale der Supermärkte füllen sich mit immer mehr tierfreien Alternativen zu Milch, Fleisch, Eiern und Fisch. Und Anfang Jahr machten unzählige Plakate und Online-Werbungen auf den Veganuary aufmerksam – den veganen Januar.
Es findet zweifellos ein Umdenken statt. Die Zahl der VeganerInnen in der Schweiz hat sich 2021 verdoppelt. Auch die Umsatzentwicklung von pflanzlichen Proteinen geht steil nach oben. Im Jahr 2020 wurde der Marktwert von Fleisch auf pflanzlicher Basis weltweit auf 6,7 Milliarden US-Dollar geschätzt. Diese Zahl dürfte im Jahr 2026 etwa 16,7 Milliarden US-Dollar erreichen.
Doch wie sieht die Realität ausserhalb der Medienblase aus? Essen wir als globale Gemeinschaft tatsächlich weniger Fleisch und mehr Pflanzen? Mitnichten. Der globale Fleischkonsum steigt weiterhin ungebrochen an. Das Wachstum stammt mehrheitlich aus Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen, in denen der Wohlstand stetig zunimmt. Auch in der Schweiz ist die Zahl der Verzichtenden noch tief: Obwohl der Fleischkonsum seit Jahren leicht zurückgeht, machten Vegetarier und Veganerinnen 2021 weniger als fünf Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Oder umgekehrt: Mehr als 95 Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer haben weiterhin tierische Produkte auf ihren Tellern.
Refuse, Reduce, Reuse, Repurpose, Recycle. Oder zu deutsch: Verweigern, Reduzieren, Wiederverwenden, Umfunktionieren, Rezyklieren. Mit diesen fünf R soll der Verschwendung und dem übermässigen Ressourcenverbrauch entgegengewirkt werden. Insbesondere im Fashion-Bereich. Denn die Modeindustrie ist für etwa 8 bis 10 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen und für fast 20 Prozent der Abwasserbelastung verantwortlich.
Tauschbörsen, Vermietung von Outfits und natürlich Secondhand-Konzepte erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Gemäss einer Analyse des Marktforschungsunternehmens Global Data, wächst der Resale-Markt elf Mal schneller als der traditionelle Mode-Einzelhandel. Bis 2030 dürfte der Markt einen Wert von 84 Milliarden US-Dollar haben, während der Fast Fashion einen Wert von etwa 40 Milliarden US-Dollar vorausgesagt wird.
Doch gleichzeitig lässt die Lust auf schnelle, billige und aktuelle Mode nicht nach. Das chinesische Online-Unternehmen Shein ist bekannt für seine fast täglich wechselnden Kollektionen zu extrem niedrigen Preisen. Und scheint mit diesem Konzept gerade bei den jungen KonsumentInnengruppen auf Begeisterung zu stossen. Laut dem Analyseunternehmen Earnest Research, das Kreditkartendaten sammelt und auswertet, stiegen die Umsätze von Shein von Januar bis Juni 2021 um satte 160 Prozent. Laut Earnest kontrolliert Shein nun 28 Prozent des amerikanischen Fast-Fashion-Marktes und übertrifft damit die etablierten Anbieter H&M, Zara, Forever 21 und Fashion Nova.
Auch der Online-Gigant Amazon musste sich bereits hinter den Chinesen einreihen: Im Mai 2021 wurde Shein in den USA sowohl unter Android als auch unter iOS zur beliebtesten Shopping-App nach neuen Downloads. Die Fast-Fashion-E-Commerce-App übernimmt damit von Amazon die Krone als Nummer-eins-App in den Shopping-Kategorie. Ein Ende von Fast-Fashion ist hinsichtlich dieser Entwicklung noch lange nicht absehbar.
Aussergewöhnliche Zeiten – wie beispielsweise eine Pandemie – stellen nicht nur unsere physische, sondern auch unsere mentale Gesundheit auf die Probe. Ungewissheit, Unruhe, Sorgen und Ängste nehmen zu, dies zeigen auch die Auslastungen bei PsychotherapeutInnen und die teils sehr langen Wartezeiten für Behandlungen.
Unter diesen Rahmenbedingungen überrascht es nur wenig, dass sich die Menschen auch über Apps Unterstützung für ihre mentale Gesundheit holen. Denn sie sind on-demand und on-the-go verfügbar, ganz ohne Wartezeiten. Laut Orcha, der Organisation for the Review of Care and Health Applications, hat die Pandemie zu einem enormen Anstieg der Downloads von Gesundheits-Apps geführt, insbesondere von Mental-Health-Apps, deren Downloads um 200 Prozent gestiegen sind. Deloitte Global prognostiziert, dass die weltweiten Ausgaben für mobile Apps zur psychischen Gesundheit im Jahr 2022 fast 500 Millionen US-Dollar erreichen werden.
Vielen Menschen wird bewusst, dass es um ihr mentales Wohlbefinden nicht allzu gut steht. Auch ist mittlerweile durch eine Vielzahl an Studien belegt, dass es unserer Gesundheit – sowohl physisch als auch psychisch – schadet, zu viel Zeit an Bildschirmen zu verbringen, Eine hohe Screen-Time beeinflusst unsere Gehirnleistung, unsere Sehkraft, unsere Körperhaltung, unseren Schlaf, unser Gewicht negativ und kann sogar zu Depressionen führen.
Trotzdem verbringen wir täglich oft mehrere Stunden damit, ziellos durch die sozialen Medien zu scrollen. Im zweiten Quartal 2021 verbrachten die Nutzer ganze 740 Milliarden Stunden mit sozialen Apps, was 44 Prozent der gesamten am Handy verbrachten Zeit entspricht.
Die Videoplattform Tiktok hat die mobilen UserInnen im Sturm erobert. Die globale Nutzerbasis von TikTok ist zwischen Januar 2018 und Juli 2020 um 1158 Prozent gestiegen, und die App hat mittlerweile eine Milliarde monatliche Nutzer. TikTok ist zudem die aktivste Social-Media-App. Im Jahr 2019 wurden auf TikTok gigantische 68 Milliarden Stunden verbracht. Ein wichtiger Teil des Erfolgsrezept liegt im Design: Sehr kurze Videos, eine einfache Bedienung und eine künstliche Intelligenz im Hintergrund, die extrem schnell lernt, welche Videos den NutzerInnen gefallen und ihnen anschliessend mehr solchen Content anzeigt. Das führt zu einer längeren Nutzung von TikTok, als die NutzerInnen ursprünglich beabsichtigen. Mindfulness? Not so much.
Mehr Fleisch, mehr alternative Proteine. Mehr Secondhand, mehr Fast Fashion. Mehr Mental Health, mehr soziale Medien. Die Zahlen zum Konsumverhalten scheinen widersprüchlich.Zwar weisen Entwicklungen auf ein Umdenken hin, auf ein Hinterfragen des Status-Quo und auf eine laufende Veränderung im Konsumverhalten. Trotzdem sind Bequemlichkeit, Convenience und letztlich auch der Preis immer noch starke Treiber. Und solange es weiterhin billige und schnell verfügbare tierische Lebensmittel, Kleidung und digitale Unterhaltung gibt, werden diese Produkte auch einen Markt finden. Ob man das nun gut findet, oder nicht.
Wie weiter also mit dem nachhaltigen Konsum? Bleibt er eine Nische im Luxusmarkt, ein Privileg für Gutverdiener? Oder können kluge Innovationen die preisgünstige Nachhaltigkeit in den Mainstream übertragen? Sodass sich am Ende der Trend zur Nachhaltigkeit – zum Weniger – gegenüber dem Gegentrend zum Überfluss – zum Mehr – durchsetzen kann? Ganz zum Wohle unseres Konsumhungers und des Planeten?