Wie gestaltet sich der Handel der Zukunft, welche Rolle spielt Technologie – insbesondere KI und welche Werte zählen noch, wenn sich Händler immer stärker zu Technologieunternehmen entwickeln? Diese und weitere Fragen wurden während der diesjährigen Internationalen Handelstagung am vergangenen Donnerstag und Freitag im GDI von Retail-Expert*innen und Führungskräften intensiv diskutiert.
Im Folgenden einige zentrale Einsichten der Konferenz:
Neue Möglichkeiten und Visionen
Siemens-Aufsichtsratschef Jim Hagemann Snabe inspirierte das Publikum mit einem weitsichtigen Blick auf die Chancen und Herausforderungen einer zunehmend digitalisierten Welt. Trotz Rezessionssorgen zeigte sich Snabe optimistisch: «Wir stehen vor einem der grössten Wendepunkte unserer Zeit», so der Experte für Innovation, Digitalisierung und gesellschaftlichen Fortschritt. Grenzen existierten vor allem im Kopf – es komme darauf an, mutig zu sein und die Fähigkeit zu entwickeln, neue Visionen zu entwerfen. Als Beispiel nannte er Maersk, das sich zum Ziel gesetzt hat, bis 2050 eine emissionsfreie Schifffahrt zu ermöglichen. Dies sei ein Beleg dafür, wie technologische Innovationen erfolgreich eingesetzt werden können, um nachhaltige Ziele zu erreichen. Snabe warnte jedoch davor, sich ausschliesslich auf Technologie zu verlassen: Widerstandsfähige Lieferketten und ein verantwortungsvoller Umgang mit KI seien entscheidend, um den Wandel im Handel erfolgreich zu gestalten.
Geteilter Meinung
Johannes Bauer, Leiter des GDI Think Tanks, präsentierte erste Ergebnisse der Anfang 2025 erscheinenden Studie zum Einsatz von KI im Handel, die auf einer Befragung von 3 000 Personen in der DACH-Region basiert. Die Ergebnisse zeigen geteilte Meinungen: 33 % der Befragten sind neugierig auf KI, 26 % äussern Misstrauen und 21 % fühlen Unbehagen. Diese gemischten Gefühle spiegeln die Unsicherheit wider, wie KI den Alltag langfristig verändern wird. Bauer hob hervor, dass der Erfolg von KI stark vom Vertrauen der Verbraucher abhänge. Während positive Auswirkungen im öffentlichen Sektor erwartet werden, befürchten die Befragten negative Effekte auf den Arbeitsmarkt. Die grössten Vorteile sehen die Expert*innen für Unternehmen, warnen jedoch vor einer Verschlechterung der Kundenerfahrung. Laut Bauer könnten KI-Shopping-Assistenten durch personalisierte Produktempfehlungen und Preisvergleiche Konsumenten helfen, Zeit und Geld zu sparen. Trotz der technischen Unterstützung dürfe der menschliche Kontakt nicht verloren gehen. Mitarbeiter müssten entsprechend geschult werden, um die Balance zwischen Technologie und Menschlichkeit zu wahren.
Technologie als guter Diener
Auch dm-CEO Christoph Werner hob hervor, dass der Erfolg von Unternehmen auf einer klaren Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Kunden beruhe. «Der Erfolg hat viele Väter», sagte er und wies darauf hin, dass es dm gelungen sei, das gesamte Unternehmen auf Kundenorientierung auszurichten. Die zentrale Philosophie von dm: Technik soll den Menschen unterstützen, nicht ersetzen. «Die Technik ist eine schlechte Herrin, aber ein guter Diener».
Zurück an die Spitze
Wie die Migros mit der «Mission 2030» die Marktführerschaft im Schweizer Lebensmittelhandel zurückerobern will, stellte Mario Irminger, Präsident der Generaldirektion des Migros-Genossenschafts-Bundes vor. Die neu gegründete Supermarkt AG soll mit Unterstützung der Migros-Industrie klare Strategien für das Kerngeschäft entwickeln und die Sortimente optimieren. Trotz der Herausforderungen versicherte Irminger: «Unsere Reputation als Love Brand und unsere finanzielle Stabilität bleiben unsere Pfeiler». Der Transformationsprozess wird mehrere Jahre dauern; auch hier sei die Technologie der Enabler, doch über den Erfolg entscheide die konsequente Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Konsument*innen.
Nahtloses Einkaufen
Deann Evans, Managing Director EMEA bei Shopify, unterstrich die Bedeutung eines nahtlosen Einkaufserlebnisses. Sie zeigte anhand einer Umfrage, dass über 53 % der Verbraucher bereit sind, die Marke zu wechseln, wenn sie ein besseres Preis-Leistungs-Verhältnis finden. Dennoch investieren nur 7 % der Unternehmen signifikant in die Verbesserung des Kundenerlebnisses. Evans betonte, dass die Zukunft des Handels in der Schaffung nahtloser Erlebnisse über alle Kanäle hinweg liege – vom stationären Handel über Online-Shops bis hin zu sozialen Medien und mobilen Anwendungen. Als Beispiel nannte sie das Unternehmen Schleich, das durch eine flexible E-Commerce-Plattform die Abbruchrate beim Checkout um 31 % senken konnte. Ihr Fazit: Technologische Innovationen können den Kaufprozess erheblich verbessern, aber tiefgreifende Kundenorientierung bleibt der Schlüssel zum langfristigen Erfolg.
Kunden verstehen
Behamics-Gründer Thilo Pfrang erläuterte anhand mehrerer Beispiele, wie KI und Verhaltenswissenschaften im Online-Handel kombiniert werden können. Das Spin-off der Universität St. Gallen nutzt subtile «Nudges», um den Einkauf für Kunden intuitiver und angenehmer zu gestalten. Ein Beispiel ist die automatische Weiterleitung von Kund*innen zum Kaufabschluss, wenn die KI vorhersagt, dass sie zum Kauf bereit sind. Dies führt zu mehr erfolgreichen Abschlüssen und weniger Retouren. Pfrang unterstrich, dass es entscheidend sei, das Kundenverhalten differenziert zu analysieren, um das Einkaufserlebnis zu optimieren. Technik fungiere dabei als eine Art psychologischer Berater, der das Kundenverhalten positiv beeinflusse, ohne es zu steuern.
Sehnsucht nach Zugehörigkeit
In seinem Vortrag zur «Erlebnisökonomie» machte Avantgarde-Group-CEO Marc Schumacher deutlich, wie stark sich das Konsumverhalten verändert hat. Konsumenten suchen zunehmend nach Marken, die sie überraschen und emotional berühren. Als Beispiel nannte er eine Gucci-Show, bei der 68 eineiige Zwillinge über den Laufsteg liefen – ein aussergewöhnlicher Moment, der den Wunsch nach multisensorischen Erlebnissen verdeutliche. «In einer Welt, in der TikTok-Videos die Aufmerksamkeitsspanne auf Sekunden verkürzt haben, wird es für Marken immer schwieriger, langfristig zu begeistern», so Schumacher. Offline-Erlebnisse, die ein starkes Zugehörigkeitsgefühl schaffen, würden wieder an Bedeutung gewinnen. Denn 70 % der Menschen gäben ihr Geld lieber für Erlebnisse als für Dinge aus.
«Wir leben den Moment der Fotografie»
Stefano Puntoni, Professor für Marketing an der Wharton School, sprach über die Verbindung von Mensch und Maschine im Handel. Er verglich den heutigen Moment mit der Einführung der Fotografie in der Kunst. So wie die Fotografie die Kunst von der realistischen Darstellung befreit habe, schaffe KI heute Raum für Kreativität, indem sie repetitive Aufgaben übernehme. Diesen Moment der Fotografie erleben wir heute wieder, wenn Mensch und KI zusammenarbeiten. Ein Beispiel ist die Suchmaschinenoptimierung (SEO), bei der die KI datenbasierte Inhalte generiert, während der Mensch diese interpretiert und verfeinert. Diese Symbiose von Mensch und Maschine schafft neue Möglichkeiten, die über die reine Automatisierung hinausgehen.
Der Kleiderschrank mit Technologie
Eine App, die das Konsumverhalten in der Modewelt grundlegend verändern könnte, präsentierte Bianca Rangecroft, Gründerin und CEO von Whering. Ihre App mit rund 5 Millionen Nutzer*innen digitalisiert den Kleiderschrank und verwaltet ihn mithilfe von KI. Sie schlägt personalisierte Outfits vor, erstellt Wunschlisten, ermöglicht Einblicke in andere Kleiderschränke, den Austausch von Stylingtipps und das Nachstylen von Looks aus bestimmten Communities. Darüber hinaus zeigt sie, wie oft Kleidungsstücke getragen werden, und hilft bei der Einschätzung, ob sich ein Kauf lohnt. Die App spricht vor allem die Generation Z an, die laut Rangecroft «eine personalisierte Erfahrung erwartet».
Breuninger: Mit Technik auf Erfolgskurs
Breuninger-CTO Frank Postel zeigte eindrucksvoll, wie sich das Traditionshaus durch gezielten Technologieeinsatz zu einem internationalen Multichannel-Händler entwickelt hat. Seit dem Einstieg in den E-Commerce im Jahr 2008, der heute über 50 % des Umsatzes ausmacht, setzt Breuninger konsequent auf IT-Modernisierung und Eigenentwicklungen, um den Online-Bereich zu stärken. Innovative Dienstleistungen wie der «Fashion Finder» mit personalisierten Empfehlungen oder «Drive2Store», das die Kundinnen und Kunden mittels Geolokalisierung zu den Häusern führt, verbinden Online- und Offline-Erlebnis nahtlos und schaffen so ein optimales, kundenorientiertes Einkaufserlebnis.
Immersive Luxuswelten
Maria von Scheel-Plessen, Director Media & E-Commerce EMEA bei einer Luxusmodemarke, zeigte eindrucksvoll, wie die Luxusbranche Omnichannel-Marketing einsetzt, um sowohl online als auch offline nahtlose und unvergessliche Erlebnisse zu schaffen. Sie erklärte, dass Marken wie Gucci Technologien wie KI und Augmented Reality kombinieren, um die Grenzen zwischen der digitalen und physischen Welt zu verwischen. Ein Beispiel dafür ist die Umwandlung einer Londoner Kunstgalerie in eine Luxusboutique, in der Kunst und Mode miteinander verschmelzen. Auch Burberry nutzt immersive Technologien wie die «Sounddusche», um Kunden noch tiefer in die Markenwelt eintauchen zu lassen. Im Zentrum dieser Strategien steht die Personalisierung: Mithilfe von CRM-Daten werden Kundenbedürfnisse in Echtzeit erkannt und massgeschneiderte Erlebnisse geschaffen, die eine enge, individuelle Beziehung zwischen Marke und Kunde fördern.
Impressionen
Die Tagung bot den Teilnehmer*innen in ungezwungener Atmosphäre zahlreiche Gelegenheiten zum Netzwerken und überraschte mit einem kreativen kulinarischen Angebot.
Bildergalerie
Ausblick
Wir freuen uns darauf, Sie an der 75. Internationalen Handelstagung nächstes Jahr (wieder) zu sehen.