Von der Petrischale auf den Teller in einem Jahrhundert

Heisst es statt From Farm to Fork bald überall nur noch From Lab to Table? Immerhin philosophierte Sir Winston Churchill bereits vor mehr als 90 Jahren über kultiviertes Fleisch. Und heute beschleunigen sich die Entwicklungen – trotz Hürden bei Skalierbarkeit, Preisen und regulatorischen Zulassungen. Dennoch, ganz so einfach ist das nicht, die zelluläre Landwirtschaft ist noch nicht auf unseren europäischen Tellern angekommen.
19 September, 2023 durch
Von der Petrischale auf den Teller in einem Jahrhundert
GDI Gottlieb Duttweiler Institute

20. Jahrhundert: Grosse Ideen und ein erstes Patent

Die Geschichte der zellulären Landwirtschaft startet im Jahr 1912. Damals gelang es dem französische Chirurg Alexis Carrel, ein Stück Herzmuskel eines Kükens in einer Petrischale weiterschlagen zu lassen. Muskelgewebe kann also ausserhalb des Körpers am Leben bleiben, wenn es mit geeigneten Nährstoffen versorgt wird. Viele Jahre später, in den frühen 1950er Jahren, kam der niederländische Forscher Willem van Eelen auf die Idee, Zellkulturen für die Herstellung von Fleischprodukten zu verwenden. Es dauerte aber bis 1999, bis van Eelens Entdeckung patentiert wurde, nachdem die US-amerikanische Gesundheitsbehörde FDA (Food and Drug Administration) 1995 den Einsatz von In-Vitro-Techniken genehmigte. Ab da war die kommerzielle Fleischproduktion im Labor erlaubt.

21. Jahrhundert: Gründung von Startups, Entwicklung von Prototypen und regulatorische Zulassungen

In den 2000er Jahren wurden die bis dahin noch recht theoretischen Ideen plötzlich greifbar. Fleisch aus dem Labor war keine Science Fiction mehr, sondern Realität. Die NASA führt erste erfolgreiche Zucht-Experimente mit Zellen von Goldfischen und Truthähnen durch. Sie sah diese Technologie als mögliches Mittel zur Ernährung von Astronauten bei langen Weltraummissionen.

2013 markierte einen Wendepunkt, als der niederländische Pharmakologe Mark Post von der Firma Mosa Meat seinen Laborburger live am Fernsehen verkosten liess. Kostenpunkt des Patties: 325’000 US-Dollar. Danach beschleunigte sich die Entwicklung enorm. Es wurden Startups gegründet, Investitionen getätigt, der Preis des kultivierten Fleisches fiel um das Zehntausendfache, und laufend wurden neue Produktentwicklungen vorgestellt. Startups auf der ganzen Welt präsentierten Hühnchen, Speck, Fisch, Schwein oder Meeresfrüchte aus dem Labor.

Lange blieb es bei Prototypen. Obwohl der US-Amerikaner Josh Tetrick, Gründer von Eat Just (früher Hampton Creek) schon 2018 verkündete, dass sein kultiviertes Hühnchen noch vor Ende des Jahres verfügbar sein werde, sah die Realität anders aus. Erst im Dezember 2020 kam der langersehnte Durchbruch: Die singapurische Lebensmittelbehörde (SFA) teilte mit, dass sie den Verkauf von kultiviertem Hühnerfleisch von Eat Just in Singapur zulasse. Damit wurde Singapur zum ersten Land, welches Fleisch aus zellulärer Landwirtschaft die regulatorische Zulassung erteilte.

Die USA zogen 2022 nach. Die FDA befand, das Hühnchen von Upside Foods sei «safe to eat». 2023 folgt der nächste Streich, als sie auch das Hühnchen von GOOD Meat, der CellAg-Abteilung von Eat Just, als für den menschlichen Konsum sicher deklarierte. Obwohl es diese Produkte noch nicht zu kaufen gibt – und es weiterhin unklar ist, wann genau dies der Fall sein wird –, bringen diese Entscheide die USA einen Schritt näher an die Verfügbarkeit von kultiviertem Fleisch in Restaurants und Supermärkten.

Derweil lässt die erste Zulassung in Europa noch auf sich warten. Die Holländer von Mosa Meat waren zwar die ersten, die ihren Burger einem breiten Publikum vorstellten. Doch bei der Regulierung schlägt Europa ein langsameres Tempo an als Singapur und die USA. Italien schlägt sogar eine ganz andere Richtung an: Um das landwirtschaftliche Erbe des Landes zu schützen, verabschiedete die italienische Regierung im März 2023 ein Gesetz, das die Verwendung von im Labor hergestellten Lebens- und Futtermitteln verbietet. Bis die Produkte in Europa verfügbar werden, dürfte es noch ein paar Jahre dauern.

Wie weiter? Patentkrieg oder Open-Source-Kollaboration?

Fleisch aus zellulärer Landwirtschaft soll eine Alternative zu konventionell produziertem Fleisch sein. Sie soll nicht nur das Wohl der Tiere schützen, sondern auch die riesigen Umwelteinflüsse der industriellen Fleischproduktion reduzieren.

Doch es geht auch um Geld. Viel Geld. Nach Angaben des The Good Food Institute wurden zwischen 2013 und 2022 knapp 3 Milliarden US-Dollar in Proteine aus zellulärer Landwirtschaft investiert. Bis ein Stück Fleisch im Labor hergestellt werden kann, braucht es intensive und teure Forschung und Entwicklung. Das dabei entstandene geistige Eigentum versuchen die CellAg-Unternehmen durch Patente schützen zu lassen, um ihre Technologien später via Lizenzverträge auch anderen Herstellern zur Verfügung zu stellen. So wurde das allererste Patent von van Eelen nach dessen Tod von Tetricks Eat Just gekauft. Doch auch Startups wie Memphis Meat, Shiok Meats oder CULT Food Science haben ihre eigenen Patente angemeldet oder bereits erhalten.

Statt mit Patenten Marktbarrieren zu errichten, ist auch ein Open-Source-Ansatz für eine stärkere Demokratisierung der Branche und mehr Partizipation denkbar. New Harvest ist ein von Sponsoren finanziertes Forschungsinstitut mit Sitz in New York, das in Zusammenarbeit mit dem slowenischen Institute for Development of Advanced Applied Systems (IRNAS) einen kostengünstigen, modularen Open-Source-Bioreaktor für die Kultivierung von In-vitro-Gewebe baut. Damit wollen sie den weltweiten Zugang zu Forschungsinstrumenten für die zelluläre Landwirtschaft verbessern und die wissenschaftliche Entwicklung von kultiviertem Fleisch vorantreiben.

Auch das israelische SuperMeat arbeitet an Open-Source-Projekten. In Zusammenarbeit mit dem international tätigen Life-Sciences-Unternehmen Thermo Fisher entwickeln sie ein System, mit dem Hunderttausende potenzieller Inputs für Wachstumsmedien, Zellpräparate und Scaffolds untersucht werden können. Diese Daten werden allen in der Branche tätigen Unternehmen zur Verfügung stehen, um die für sie optimalen Komponenten zu den niedrigsten Kosten zu finden. Durch den Aufbau von Lieferketten und Vertriebsnetzen für eine Vielzahl von Produkten und nicht nur für ein Unternehmen, können entscheidende Skaleneffekte erzielt werden. Dieser Prozess und viele andere Partnerschafts- und Forschungsprojekte rücken das Ziel der Preisparität zwischen Produkten aus zellulärer und tierischer Landwirtschaft näher denn je.

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