Das Funktionieren unserer Gesellschaft basiert darauf, dass sich viele Menschen freiwillig engagieren. Doch viele Organisationen haben heute Schwierigkeiten, Freiwillige zu finden. Als Gründe werden häufig die Demographie und zunehmender Individualismus genannt: Weniger junge Menschen, die mehr Möglichkeiten haben, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten.
«Selbst wenn dem so wäre: Von Schuldzuweisungen kommt auch niemand neu ins Ehrenamt», sagt Jakub Samochowiec, Senior Researcher am Gottlieb Duttweiler Institut. Er hat deshalb in einer Fallstudie analysiert, «wie Strukturen aussehen sollten, damit Menschen Lust darauf haben, dort hineinzuwollen». Dafür wurden vier Organisationen untersucht, die erfolgreich punktuelles und unverbindliches Engagement unterstützen:
- Critical Mass, eine weltweite Bewegung von Radfahrerinnen und Radfahrern,
- Gärngschee, eine Initiative zur Unterstützung von Armutsbetroffenen,
- Haus pour Bienne, ein Kultur- und Bildungszentrum,
- OpenStreetMap, eine Open-Source-Community zur Erstellung frei zugänglicher und nutzbarer Karten.
Niedrigschwelliger Einstieg und einfacher Start für neue Projekte
Allen untersuchten Organisationen gemeinsam ist der sehr einfache Einstieg ohne jegliche Hürde. So kann bei «Critical Mass» jeder am letzten Freitag des Monats mit einem Velo am Besammlungsort erscheinen und mit der Gruppe mitfahren. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Im «Haus pour Bienne» sind alle Angebote offen für alle, gratis und ohne Anmeldung. Es ist auch unkompliziert, selbst einen kleinen Event zu organisieren oder ein eigenes Angebot zu lancieren. Und bei «Gärngschee» kann jede in der Facebook-Gruppe nicht mehr benötigte Gegenstände zur Abholung anbieten – gratis und für Armutsbetroffene.
Darüber hinaus ermöglichen alle vier Organisationen die einfache Übernahme von mehr Verantwortung. Das Besondere, so Samochowiec: «Das geht nicht nur durch die Integration in die bestehenden Strukturen, sondern auch durch das Starten neuer Projekte. Das «Mutterprojekt» bietet dafür eine verbindende Mission, vordefinierte Umgangsformen und Werte sowie die Möglichkeit des gegenseitigen Austauschs – wie in einem Ökosystem, in dem jeder seine eigene Nische finden kann.»
Zwei Beispiele für diese Flexibilität:
- Bei «Gärngschee» kamen Mitglieder auf die Idee, Schulstarter-Sets zusammenzustellen, was offen diskutiert und dann einfach ausprobiert wurde.
- Bei «Critical Mass» ergab sich spontan, am Tag vor einer Aktion eine gemeinsame Fahrrad-Reparaturwerkstatt zu organisieren.
In der Regel wird für den Start eines neuen Projekts keinerlei Abstimmung benötigt. «Es findet schlicht die Abstimmung mit den Füssen statt», sagt Studienleiter Samochowiec: «Wenn das neue Angebot sich zu weit von den Interessen der anderen Mitglieder entfernt, bleiben sie einfach weg.» Die positive Grundstimmung der Freiwilligkeit wird so auch weit über den einfachen Einstieg hinaus aufrechterhalten.
Leitfaden zum Selbstcheck
Die vollständige Studie «Hier und Jetzt Engagiert» im Auftrag des Migros-Kulturprozent steht kostenlos unter gdi.ch/publikationen/studien zum Download bereit. Sie enthält auch einen Leitfaden, der Organisationen einen Selbstcheck ermöglicht:
- Wie funktioniert bei uns der Einstieg?
- Wie werden bei uns Beziehungen gepflegt?
- Welche Gestaltungsspielräume eröffnen wir für vertieftes Engagement?