Deutsch-tschechoslowakischer Literatenstreit am GDI

Kurz nach dem Prager Frühling fand am GDI ein Kongress mit namhaften tschechoslowakischen und deutschsprachigen Autoren statt. Unter grosser medialer Beachtung verlief er nicht ganz nach Plan.
1 Januar, 2010 by
Deutsch-tschechoslowakischer Literatenstreit am GDI
GDI Gottlieb Duttweiler Institute

Gut zwei Monate waren seit der gewaltsamen Beendigung des «Prager Frühlings» vergangen, als das GDI im November 1968 zum Schauplatz eines tschechoslowakischen Schriftstellerkongresses wurde. Presse, Radio und Fernsehen schenkten der Konferenz grosse Aufmerksamkeit. Es sollte das erste Mal sein, dass die als Folge der sowjetischen Besetzung der Tschechoslowakei geflohenen Autoren auf ihre in der Heimat gebliebenen Kolleginnen und Kollegen treffen sollten.

Die Teilnehmerliste erhöhte das Aufsehen. Die deutschsprachige Literatur war mit führenden Autoren wie Günter Grass, Friedrich Dürrenmatt, Uwe Johnson und Max Frisch vertreten. Für die Tschechoslowakei nahmen unter anderem Pavel Kohout, Jirí Gruša, Vera Linhartová und Josef Skvorecky teil – und Václav Havel, zu der Zeit Autor.

Mit Spannung erwartet, sorgte die Tagung allerdings nicht durchwegs für Begeisterung. Die Gespräche wollten «nie wirklich in Gang kommen» («Der Bund»). Stattdessen interpretierten die Deutschen Autoren «in reichlich arroganter Attitüde» («Luzerner Neueste Nachrichten») die Texte ihrer Kollegen: Grass nannte den Text eines tschechoslowakischen Kollegen handwerklich «nicht sehr ehrgeizig», Christoph Mekkel bemängelte den zu häufigen Gebrauch des Genitivs in Gedichten. «Eure Sorgen möchten wir haben», entgegnete Josef Nesvadba laut der «FAZ» temperamentvoll.

Vermittlungsversuche seitens der Gastgeber blieben aus: Max Frisch schwieg gemäss der «FAZ» ebenso beharrlich, wie der aus dem Nachbarsort Kilchberg angereiste Golo Mann am Fenster stand. Erst die Medien wiesen darauf hin, dass die deutschsprachige und tschechoslowakische Literaturen sich in zwei unterschiedlichen Kontexten befänden: Die tschechoslowakische in einem politisch, die deutsche eher in einem ästhetisch geprägten.

Trotzdem verliessen die Teilnehmer das GDI ohne Groll. Dürrenmatt wies in einer versöhnenden Geste auf die Mehrdeutigkeit hin, die in jedem Kunstwerk stecke. Und auf Fragen der Journalisten meinten Autoren beider Seiten, das Wichtigste am Kongress seien die persönlichen Kontakte gewesen. «Wir wollen uns kennenlernen», so Max Frisch im «Hamburger Abendblatt». Ein positives Fazit zog auch der Institutsleiter und Gastgeber, Hans A. Pestalozzi, der festhielt, dass die Tagung dazu beigetragen habe, «die Kontakte zwischen den Schriftstellern verschiedener Länder zu vertiefen.»

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