Operationen am digitalen Zwilling

«Digitale Zwillinge» könnten in Zukunft die Basis der datengesteuerten, personalisierten Medizin bilden: Die Behandlung erfolgt zuerst am Avatar und danach am Original.
17 Februar, 2021 durch
Operationen am digitalen Zwilling
GDI Gottlieb Duttweiler Institute
 

Der nachfolgende Text basiert auf einem Auszug aus der GDI-Studie «Next Health», die Sie über unsere Website beziehen können.

Seit den 1990er-Jahren versuchen ForscherInnen in den Sozial- und Naturwissenschaften, mit Hilfe von Computersimulationen Fragen zu beantworten wie: Was verursacht Krieg? Welche politischen Systeme sind am stabilsten? Wie wird sich der Klimawandel auf die globale Migration auswirken? Die Qualität dieser Simulationen ist dadurch begrenzt, wie gut moderne Computer die grosse Komplexität unserer Welt abbilden können – und das können sie noch nicht sehr gut. Aber was wäre, wenn Computer eines Tages so leistungsfähig und diese Simulationen so ausgeklügelt wären, dass jede simulierte «Person» im Computercode so komplex und dynamisch wie ihr physisches Original wäre?

Je mehr Daten verfügbar werden, umso besser werden wir für Maschinen lesbar und umso präziser werden das digitale Modell oder der «digitale Zwilling» einer Person. Wenn die Datenmenge gross genug ist und auf lernfähige Software trifft, dürfte die Quantität dereinst in Qualität umschlagen. Die digitalen Zwillinge könnten in Zukunft die Basis der datengesteuerten, personalisierten Medizin bilden: Die Behandlung erfolgt dann zuerst am Modell (in silico – am Computer) und danach am Original (in vivo). «In der Medizin träumt man von kompletten In-silico-Doppelgängern, die vorhersagen, wie ein Mensch altert oder wie sich ein künstliches Gelenk im Körper abnutzt», sagt Thijs Defraeye, der an der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt ein digitales Modell der Haut entwickelt.

«Mit digitalen Zwillingen im Gesundheitswesen können wir verschiedene Szenarien und Behandlungsoptionen bewerten; wir können persönliche und medizinische Daten kombinieren, um Intervention und Prävention in Echtzeit zu ermöglichen», erklärt Ger Janssen, Leiter der Abteilung für digitale Zwillinge bei Philips. «Wir betrachten nicht nur die Kardiologie, sondern auch die Onkologie, Pulmologie und Neurologie. Ein digitaler Zwilling des menschlichen Körpers ist das ultimative Ziel».

Mittels Echtzeit-Modellierung soll der Therapieverlauf gesteuert und vorhergesagt werden. Die digitalen Modelle werden mit individuellen physiologischen, sozialen und Umwelt-Daten von realen Menschen gefüttert und dynamisch abgestimmt. So können die Wirkungen bestimmter Eingriffe und Medikamente simuliert und Alternativen ausprobiert werden, ohne den (realen) Körper zu belasten.

Das aktuell bekannteste Beispiel für diese Technologie kommt aus der Autoindustrie: Jeder Tesla hat seinen eigenen digitalen Zwilling. Über Sensoren sendet das physische Auto kontinuierlich Daten an sein digitales «Alter Auto». Wenn das Fahrzeug eine klappernde Tür hat, fordert das System den Nutzer auf, Software herunterzuladen, die die Hydraulik der Tür anpasst. Weil Tesla Informationen über die Leistung und die Nutzung jedes einzelnen Fahrzeugs sammelt, aggregieren seine Ingenieure die Daten auch, um Aktualisierungen zu erstellen, die die Leistung dieser spezifischen Fahrzeugreihe verbessern. Dieser Prozess hilft den Ingenieuren und Konstrukteuren auch zu verstehen, was mit Software-Updates allein nicht verbessert werden kann – entscheidende Informationen, um grössere Innovationssprünge zu machen, wenn die nächste Version eines Produkts eingesetzt wird.

Digitale Zwillinge von Menschen sind noch immer ein Traum, aber es gibt Fortschritte, zum Beispiel mit «Living Heart» – dem ersten realistischen Modell eines menschlichen Organs. Digitale Zwillinge kommen auch in der Forschung zum Einsatz. So könnten dank computergenerierten Modellen in Zukunft immer öfter auch In-vitro-Experimente und Tierversuche übersprungen werden. Damit würde Forschung schneller und billiger.

Für die NutzerInnen könnte ein digitaler Zwilling eine Art persönlicher Coach werden. Er hätte den Vorteil, dass er immer bessere Daten und neue Einsichten gewinnt, sich dadurch selbst viel besser versteht und auch einschätzen kann, was er tun oder besser lassen soll. Der israelische Historiker und Bestsellerautor Yuval Noah Hariri meint, dass wir in Zukunft besser nicht mehr auf unsere Gefühle hören, sondern auf externe Algorithmen, weil sie den Kontext und die Konsequenzen unserer Aktivitäten besser einschätzen können und uns vor Impulshandlungen schützen, die wir später bereuen würden.

Studie, 2020 (kostenloser Download)

Sprachen: Deutsch, Englisch, Französisch
Format: PDF
Im Auftrag von: sminds AG

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Sprachen: Deutsch, Französisch
Format: PDF
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