Die Welt ist im Wandel. Geopolitische Konflikte untergraben Sicherheitsgarantien und fordern neue Allianzen. In einer Wirtschaft, die zunehmend von geringem Vertrauen geprägt ist, werden stabile Beziehungen umso wichtiger. Das gilt auch für den Einzelhandel.
Johannes Bauer
Head of Think Tank, Member of the Executive Board
In seiner Forschung untersucht Dr. Johannes C. Bauer Veränderungen im Konsum- und Kaufverhalten, die Zukunft des Handels vor dem Hintergrund langfristiger Konsum-, Technologie- und Geschäftsmodell-Trends sowie Chancen und Risiken der Digitalisierung für Wirtschaft und Gesellschaft.
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Nähe in drei Dimensionen
Nähe ist gemäss der Construal Level Theory ein psychologisches Konzept, das durch verschiedene Dimensionen beeinflusst wird, unter anderem durch die räumliche, zeitliche und soziale Dimension. Diese drei Dimensionen lassen sich auch für den Handel übersetzen: Die räumliche Dimension wird zur physischen Nähe. Darin zählen kurze Wege, einfacher Zugang und ein relevantes Angebot. Zeitlich bedeutet für den Handel Digital. Das bedeutet, Online auffindbar zu sein, eine reibungslose und zeiteffiziente Einkaufserfahrung zu schaffen und seine Versprechen (z.B. hinsichtlich Lieferung) auch wirklich einzulösen. Die soziale Dimension wird zur emotionalen Nähe, die dadurch entsteht, dass Kund*innen und Mitarbeitende mit dem Unternehmen grundsätzlich dieselbe Wertebasis teilen, die sich spürbar in der Unternehmens- und Servicekultur widerspiegelt. Einzelhändler, die alle drei Dimensionen abdecken, bieten einen wahrnehmbaren Kundennutzen und sind damit optimal für den Handel der Zukunft gewappnet.
Physische Nähe: einfacher Zugang
Suchanfragen zu Angeboten «in meiner Nähe» nehmen bei Google laufend zu und nahe gelegene Einkaufsmöglichkeiten gehören zu den wichtigsten Kriterien bei der Immobiliensuche. Obwohl von vielen Händlern unterschätzt, zeigen die Daten, dass die physische Nähe für die Kundschaft bei der Ladenwahl zentral ist. Seit Corona hat sich das Bewegungsmuster der Menschen nachhaltig verändert. Dabei verlagerten sich die Konsumausgaben vom Stadtzentrum in die Wohnviertel und damit in die Nähe der Kundschaft. Händler wie Carrefour oder Target setzen daher nicht mehr nur auf grossflächige «Big Box»- Formate, sondern zusätzlich auf ein dichteres Ladennetz mit kleineren Geschäften. Die Präsenz in der Nachbarschaft gewinnt wieder an Bedeutung.
Digitale Nähe: wo Plattformen den Einzelhandel verdrängen
Eine zunehmende Distanz zu Läden begünstigt die bereits schnelle Verschiebung vom stationären zum digitalen Handel. Hier werden die gestiegenen Kundenerwartungen sofort erfüllt. Bereits in etwa fünf Jahren könnte der Online-Anteil von Non-Food Artikeln den physischen Verkauf einholen.


In digitalen Kanälen wird der traditionelle Händler vermehrt unsichtbar. Beim Kauf über klassische E-Commerce-Seiten gelangen viele Kund*innen erst über Suchmaschinen zum Retailer. Sichtbar ist nur, wer in digitale Massnahmen wie SEA oder SEO investiert und strukturierte Produktinformationen bereitstellt. 2022 hat Amazon Google als Startpunkt bei der Produktsuche verdrängt: Je nach Land starten mehr als 55 % der Käufer*innen ihre Suche direkt auf der Plattform. Dabei rückt der Händler noch mehr in den Hintergrund. Wettbewerbsfähige Preise, Bestandssicherheit und Servicequalität bestimmen den Erfolg. Zukünftig könnte künstliche Intelligenz wie ChatGPT oder Perplexity den gesamten Kaufprozess abwickeln. Echtzeitdaten und zitierfähiges Wissen über leistungsstarke Schnittstellen sind dann zentral. Konsument*innen nutzen KI bereits heute für die Suche und beim Vergleich von Produkten oder fragen aktuell gültige Rabattcodes ab. Online reduzieren technologische Gatekeeper den Einfluss der Retail-Unternehmen. Algorithmen und autonome Prozesse prägen diese Customer Journeys, bei denen Händler vermehrt zu Datenlieferanten und Logistikunternehmen werden. Um trotzdem relevant zu bleiben, stärkt die emotionale Nähe die Relevanz der Marke.
Emotionale Nähe: gemeinsame Werte als Basis
Emotionen rücken bei Kaufentscheidungen immer stärker ins Zentrum. Die Kund*innen wünschen sich mehr als reine Transaktionen von Warenwert gegen Geld. Menschen bevorzugen Händler und Marken, deren Image und Werte mit ihrem Selbstbild übereinstimmen. Dabei geht es um weit mehr als nur Kundenzufriedenheit. Ein plakatives Beispiel ist Tesla. Während die Elektrofahrzeuge bis 2024 in ihrer Kategorie am beliebtesten waren, stürzte die Marke ab, nachdem Elon Musk den US-Wahlkampf von Donald Trump mit kontroversen Auftritten unterstützte. Das zeigt eindrücklich, dass selbst eine sehr hohe Kundenzufriedenheit inkompatible Werte nicht ausgleichen kann. Investitionen in enge Kundenbeziehungen lohnen sich auch aus wirtschaftlicher Sicht. Denn wenn sich Menschen vollständig mit dem Unternehmen verbunden fühlen, sind sie nicht nur loyaler, sondern kaufen häufiger und generieren höhere Kassenbons.
Prioritäten für den Händler der Zukunft
Daraus lassen sich drei Management-Prioritäten ableiten:
- Evaluieren Sie Ihr Produktportfolio und Ihre Formatstrategie. Berücksichtigen Sie dabei die veränderten Bedürfnisse von neuen Kundengruppen und Trends.
- Sichern Sie Online Sichtbarkeit, Relevanz und Zitierfähigkeit, um auch für Agentic-Commerce zukunftsfähig zu werden.
- Gleichen Sie Ihr Wertesystem mit Ihrer Zielgruppe ab und etablieren Sie emotionale Nähe als kundenzentriertes KPI, das über reine Kundenzufriedenheit hinausgeht.
Kundennähe ist ein mehrdimensionales Konzept. Sie entsteht dort, wo Händler physisch erreichbar, digital sichtbar und antwortfähig sowie emotional verbunden sind. Wer diese Dimensionen abdeckt und in einer KI-getriebenen Handelswelt sichtbar bleibt, schafft nachhaltig Vertrauen und bleibt langfristig erfolgreich.
Der Gastbeitrag von Johannes Bauer erschien in der Ausgabe 05/2025 von Handel Heute auf Seite 18 und 19.
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