Interview mit Petra Tipaldi zur Studie «Unbundling the Family»

Die neue GDI-Studie «Unbundling the Family – Schweizer Familien zwischen Tradition und Transformation» zeigt die anhaltende Bedeutung der Familie für unsere Bevölkerung, trotz sinkender Geburtenrate. GDI-Forscherin Petra Tipaldi erklärt die überraschenden Ergebnisse und gibt Einblicke in die sich wandelnden Vorstellungen von Erfüllung und Lebenszufriedenheit.
11 Juli, 2024 durch
Interview mit Petra Tipaldi zur Studie «Unbundling the Family»
GDI Gottlieb Duttweiler Institute
 

GDI: Welches Ergebnis der Befragung hat Sie am meisten überrascht?
Petra Tipaldi: Ich fand es erstaunlich, dass im Gegensatz zu den Schlagzeilen in den Medien, das Bild der Familie, welches sehr viel inklusiver geworden ist, doch immer noch so positiv als Quelle von emotionaler Nähe und Unterstützung wahrgenommen wird und die Mehrheit mit ihrem Leben zufrieden ist. Ebenso war ich erstaunt, wie wichtig es den Familien ist, die Hauptverantwortung für Haus- und Familienaufgaben zu tragen. Hier hätte ich erwartet, dass wenn es um Aufgaben wie Putzen geht, der Wunsch nach Auslagerung dieser Aufgaben grösser ist. 

Ein Grossteil der Befragten scheint zufrieden mit dem Ist-Zustand, trotz hohem Alltagsstress und noch immer ungleich verteilten Haushaltsaufgaben. Wie erklären Sie sich das?
Die Emanzipationsbewegung hat in den letzten Jahrzehnten viel erreicht. In vielen Familien herrscht bereits heute Gleichberechtigung. Im Vergleich zum Ausland haben die Infrastrukturen für Kinderbetreuung und auch Elternurlaub noch deutliches Potenzial. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine "ideale" Familie sind heute in der Schweiz gut. 

Kinder kommen bei der Frage nach einem erfüllten Leben erst an vierter Stelle. Was verschafft Menschen ohne Kindern Erfüllung?
Hier sieht man die Veränderung sehr stark. Waren vor einigen Jahren noch Kinder – insbesondere für Frauen – das Lebensziel, so ist dies längst nicht mehr der Fall. Die menschlichen Grundbedürfnisse nach Autonomie, Verbindung und Kompetenz werden nicht mehr allein über die Familie erfüllt. Ein erfüllender Job, bei dem man das Gefühl hat, etwas Sinnvolles zu tun und etwas verändern zu können, macht Spass und spricht die Bedürfnisse nach Kompetenz und Autonomie an. Eine glückliche Beziehung und enge Freundschaften erfüllen das Bedürfnis nach Verbundenheit. Vielleicht können Menschen hier ihre Bedürfnisse befriedigen, ohne ihre individuelle Freiheit einzuschränken oder langjährige Verpflichtungen einzugehen, wie das vielleicht mit Kindern der Fall wäre. 

Ist die Gesellschaft hier im Wandel und entstehen da gerade neue Netzwerke, die die traditionelle Familie ersetzen und gleichwohl Erfüllung bieten? 
Die Gesellschaft ist hier definitiv im Wandel. Menschen suchen und finden Familien in Wohngemeinschaften, Co-Parenting Arrangements, offenen Beziehungen und Mehr-Eltern-Familien. Gleichzeitig ist nicht zu unterschätzen, dass «Familie» auch eine ordnende Struktur darstellt und ein Wegfall dieser gesellschaftlichen Struktur zu einer erhöhten Unsicherheit führen kann. Dieses Kreieren von alternativen familialen Lebensformen bringt somit nicht nur Freiheit mit sich, sondern die Flexibilität erfordert gute Kommunikation und erhöht die Komplexität für alle Beteiligten. Darüber hinaus sind alternative Familienkonstellationen bisher nicht oder nur ungenügend im Familien- und Eherecht geschützt. Somit stellen moderne Lebensformen nicht nur eine emotionale, sondern auch eine rechtliche Herausforderung dar.

Es sind meist die Mitarbeiter*innen in der «Rushhour» ihres Lebens, also zwischen 30 und 40, die befördert werden. Dann, wenn sie laut der Studie am meisten Stress erleben. Sollten Arbeitgeber*innen ihre Karrieremodelle neu denken?
Arbeitgeber*innen können ihre Mitarbeitenden dadurch unterstützen, dass sie inklusive durchlässige Karriereförderung betreiben und alternative Karrieremöglichkeiten bieten, und zwar für alle Geschlechter. Auch Anpassungen der Infrastruktur und Regelungen, die bisher auf Mütter und/oder Väter begrenzt sind, müssen angepasst werden, um die Pluralisierung der Familien berücksichtigen und eine Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie zu ermöglichen. Es ist nicht nur eine Flexibilisierung der Wochenarbeitszeit erforderlich, sondern auch der Lebensarbeitszeit, damit Mitarbeitende flexibel zwischen Familien- und Karrierephasen wählen können. Besonders wichtig ist dabei die Förderung der Karrierechancen für Menschen über 40.

Wie hat sich das Bild der Familie seit der letzten GDI Studie 2003 verändert? 
In der Trendstudie vom Jahr 2003 wurden Aussagen über die Zukunft gemacht, während in der neuen Studie die Wahrnehmung der Schweizer Bewohner*innen erhoben wurde, wo wir gerade stehen. Bereits 2003 war eine Entwicklung zur Pluralisierung hin zu erkennen, was nicht erstaunlich ist, da gesellschaftliche Änderungen i.d.R. langsam vonstatten gehen. Dennoch zeigt die neue Studie, dass das traditionelle Verständnis von Familie aus 2003, welche sich noch immer hauptsächlich durch Ehe und biologische Elternschaft/Verwandtschaft auszeichnet, mittlerweile viel inklusiver ist. Die gesellschaftliche Akzeptanz der Vielfalt von Familienformen hat zugenommen. Die Werte haben sich von traditionellen Vorstellungen hin zu Liebe, Zusammenhalt und Vertrauen verschoben, wobei die Balance zwischen Beruf und Familie weiter an Bedeutung gewinnt. Insgesamt zeigt sich ein Wandel von traditionellen zu vielfältigen und emotional stärker verbundenen Familienstrukturen.

Wie stehen die Resultate zur grösseren Lebenszufriedenheit mit Kindern ggü. Personen ohne Kindern anderen empirischen Studien gegenüber, die gegenteiliges aussagen, wie z.B. Singlefrauen sind die glücklichsten? 
Da wir den Beziehungsstatus unserer Proband*innen nicht abgefragt haben, können wir dieses Ergebnis weder widerlegen noch bestätigen. Für mich sind die Ergebnisse kein Widerspruch. Zum einen liegt der Fokus woanders, zum anderen decken sich unsere Resultate mit denen von anderen wissenschaftlichen Studien (z.B. Krämer et al. 2024). Ich finde vielmehr spannend, dass obwohl die Erweiterung der Familie durch Kinder unbestritten zu mehr Stress führt, führt dies nicht zu einer Verschlechterung der Lebenszufriedenheit. Dies soll also kein Appell sein, dass alle Kinder bekommen sollen - oder eben nicht - ich sehe es vielmehr als gute Neuigkeiten für alle Eltern, die gerade vor der Herausforderung stehen, alles unter einen Hut zu bekommen.

Die Studie «Unbundling the Family – Schweizer Familien zwischen Tradition und Transformation» steht kostenlos zum Download bereit.

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