Infografik: Wie sich der öffentliche Raum verändert

Der «Amazon-Effekt» hat bei US-Händlern zu zahlreichen Filialschliessungen geführt. Im Gegenzug fordert die Erlebnisgesellschaft mehr Gastronomieangebote. Die Infografik zeigt: ändern sich die Bedürfnisse der Bevölkerung, ändert sich der öffentliche Raum.
17 Mai, 2018 durch
Infografik: Wie sich der öffentliche Raum verändert
GDI Gottlieb Duttweiler Institute
 

Dies ist ein Auszug aus der neuen GDI-Studie «Future Public Space». Die gesamte Studie ist kostenlos als Download verfügbar.

Das Konsumverhalten hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch verändert: Stöberte man noch vor einer Dekade in der Buchhandlung seines Vertrauens nach Klassikern oder suchte man im inhabergeführten Haushaltswarengeschäft nach Töpfen, so wird heute immer häufiger im Internet bestellt. Amazon «isst» die Welt: Laut den Analysten von Slice Intelligence gehen in den USA von jedem im Detailhandel ausgegebenen Dollar 43 Cent an Amazon – Tendenz steigend. Auch in der Schweiz wird der Online-Handel immer populärer. Das hat Auswirkungen auf den öffentlichen Raum, der heute mitunter stark vom Handel geprägt ist.

Gerade in den vergangenen 30 Jahren haben die Handelsflächen stark zugenommen und beginnen sich jetzt – bedingt durch den Onlinehandel – wieder zurückzuentwickeln. Überhaupt kann man heute überall einkaufen, auch an Orten die eigentlich nicht als Handelsflächen deklariert sind: Spitäler, Eventlokale, Bahnhöfe. Der «Amazon-Effekt» hat in den USA zu zahlreichen Filialschliessungen von Detailhandelsketten wie Macy’s, JC Penney, lululemon athletica, Urban Outfitters oder American Eagle geführt. Der Bekleidungshersteller Ralph Lauren musste seinen Flagship-Store für Polo-Hemden auf der Fifth Avenue in New York schliessen. Kein Wunder, berichten US-Medien in diesem Zusammenhang bereits von der «Great Retail Apocalypse».

Klar, Amazon ist nicht allein verantwortlich für den Niedergang des Detailhandels, dessen «Siechtum» schon lange vor dem Online-Shopping begann. Der Klick-Konsum hinterlässt möglicherweise weniger sichtbare Architektur in den Städten, dafür umso mehr in der Peripherie. Im Silicon Valley ist bereits jetzt eine neue Form der Architektur sichtbar: Fulfillment-Center und Server-Farmen werden auch in Europa an Bedeutung gewinnen. Je verdichteter wir in den urbanen Zentren leben, desto mehr wird die Stadt zu einem «matrixartigen» Frontend – während das Land als Backend dient.

Die Strukturen in den USA, wo der Konsum während Jahrzehnten eher in den Shopping Malls der Peripherie stattgefunden hat, lassen sich nicht eins zu eins auf die Verhältnisse in der Schweiz übertragen. Trotzdem eignet sich die Entwicklung in den USA zur Ableitung einiger Tendenzen. Auch wenn sich die Tendenz im Flächenboom des Handels der vergangenen zwanzig Jahre noch nicht bemerkbar gemacht – gesamtschweizerisch haben die Handelsflächen zwischen 1995 und 2015 um 28% zugenommen – der Druck des Online-Handels ist eindeutig in Rückläufigen Umsätzen spürbar. Demgegenüber haben die Umsätze im Non-Food-Bereich des Online-Handels in den letzten fünf Jahren jährlich im zweistelligen Bereich zugenommen.

Wenn nun aber die Website von Amazon zum universellen Schaufenster wird und der Konsum sich weiter in Richtung E-Commerce verlagert, verlieren Einkaufs- und Flaniermeilen ihre Funktion. Weil die physische Verkaufsfläche an Relevanz verliert, ist eine andere Nutzung des öffentlichen Raums gefordert.

Der Handel per se ist nicht dem Untergang geweiht, er wird sich aber dramatisch verändern und von der Logistik und der Lagerbewirtschaftung entkoppeln. Carlo Ratti, Architekt und Direktor des MIT Senseable City Lab, geht davon aus, dass wir beim Shopping eine Hybridisierung von physischem und virtuellem Raum erleben werden: Gemäss seiner Prognose werden wir einerseits digitale Dienste wie Apps nutzen, um Alltagsprodukte wie Toilettenpapier, Seife oder Milch zu kaufen. Auf der anderen Seite wird Shopping als Erlebnis an Bedeutung gewinnen. Ratti meint, es reiche nicht aus, dass uns Amazon aufgrund der zuletzt gekauften Artikel – und der entsprechenden Algorithmen – das nächste Produkt empfiehlt. Für ein einzigartiges Einkaufserlebnis brauche es vielmehr Serendipität, also das zufällige Aufspüren bestimmter Gegenstände, das Flanieren, das Sich-treiben-Lassen und das Stöbern – etwa in einer Buchhandlung oder in einem Antiquitätengeschäft.

Die Infografik zeigt das Bevölkerungswachstum und die veränderte Nutzung des öffentlichen Raums im Verlauf der letzten 20 Jahre.

Durch eine Verschiebung von einer passiven Konsumgesellschaft hin zu einer oft interaktiven Erlebnisgesellschaft gewinnt auch das Essen zunehmend an Bedeutung: Schnellrestaurants wie Dönerläden, Pizzaketten oder Starbucks-Filialen schiessen in den Innenstädten wie Pilze aus dem Boden. Es gibt immer mehr Möglichkeiten zur Interaktion, und Essen – auch bei der Fastfood-Kette – wird wieder als durch und durch soziale Aktivität wahrgenommen. Die Gastronomie dehnt sich in den Innenstädten aus, was die Nutzung des umliegenden öffentlichen Raums neu definiert. Erlebnis und Genuss stehen mit zunehmendem Alter an höherer Stelle als materieller Konsum. Mit unserer alternden Gesellschaft wird die Food-Kultur in Zukunft deshalb noch mehr Gewicht erhalten.

Gestiegene Mobilität und die Bereitschaft zu pendeln führen dazu, dass wir uns immer mehr «on the go» verpflegen – vor allem im öffentlichen Raum. Der Bedeutungsverlust des Detailhandels und der damit einhergehende Bedeutungszuwachs des Gastronomiegewerbes kann durchaus zu einer Belebung des öffentlichen Raums führen: Schliesslich sind herkömmliche Fussgängerzonen, in denen tagsüber Tausende von Menschen flanieren, nach Ladenschluss oft wie ausgestorben.

Das Velo und weitere (neue) Verkehrsmittel gewinnen an Bedeutung und verändern den Platzanspruch in der bis anhin durch Autos dominierten Stadt. In Kopenhagen gibt es mittlerweile mehr Fahrräder als Autos. Der Vormarsch autonomer Fahrzeuge – verbunden mit dem Konzept des Sharing – dürfte den heute durch den Verkehr besetzten öffentlichen Raum deutlich verändern. Mit dem autonomen Fahren ist die städtebauliche Hoffnung verbunden, dass in den Innenstädten grosse Flächen frei werden. Wie gigantisch dieses Potenzial ist, zeigt das Beispiel von Houston: In der texanischen Grossstadt – sie soll als Extrembeispiel dienen – sind 30 Prozent der Stadtfläche von bis zu zwölfstöckigen Parkhäusern besetzt. Fahren autonome Fahrzeuge als lose aneinandergekoppelte Flotte morgens und abends in die Stadt, um Pendler an ihre Arbeitsplätze zu bringen oder von dort abzuholen, so werden Millionen von Hektaren Parkraum überflüssig. Roboterfahrzeuge können sich einfach wieder in den Verkehr einfädeln und auf den nächsten Passagier warten – oder zwischenzeitlich in Randgebiete fahren, wo es mehr Platz gibt. So könnte öffentlicher Raum zurückgewonnen, aber auch neuer Wohn-, Gewerbe- und Büroraum sowie mehr Platz für Fussgänger geschaffen werden. Entsprechende Nutzungskonzepte bestehen bereits: Das amerikanische Architekturbüro Gensler hat einen Entwurf präsentiert, wie sich eine Parkstruktur in einen Bürokomplex umfunktionieren lässt.

Entscheidend wird die Frage sein, ob sich das Sharing-Modell wirklich durchsetzt. Natürlich weiss jeder informierte Mensch, wie uneffektiv die Nutzung eines Automobils ist: Es wird in der Regel während 23 Stunden pro Tag nicht verwendet, und der zur Nutzung notwendige Landanteil (Strassen, Autobahnen, Parkplätze) ist irrational hoch. Aber bleiben wir nicht vielleicht bei jenem alten Prinzip, das den liberalen Gedanken geprägt hat? Wollen die Menschen wirklich auf ihren Besitz verzichten? Gleichzeitig muss man auch bedenken, dass mit autonomen Fahrzeugen plötzlich alle Leute den Individualverkehr nutzen können – auch Hochbetagte, Kinder und all jene Menschen, die bisher keinen Führerschein machen konnten oder wollten. Vielleicht haben wir dann plötzlich ein völlig neues Platzproblem.

 

Die komplette Studie «Future Public Space» ist im GDI-Shop kostenlos als Download verfügbar.

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