Erfolgreiche Städte setzen auf soziale Energie

Was macht Städte und Regionen attraktiv für Menschen? Arbeitsplätze waren es einmal, in Homeoffice-Zeiten spielen sie aber fast keine Rolle mehr. Es sind die Beziehungsnetze, die Menschen anziehen, wie eine aktuelle GDI-Studie zeigt. Regierungen müssen sie aktiv ermöglichen.
4 März, 2021 durch
Erfolgreiche Städte setzen auf soziale Energie
GDI Gottlieb Duttweiler Institute

Der nachfolgende Text basiert auf einem Auszug aus der GDI-Studie «Schaffhausen 2030», die Sie über unsere Website beziehen können.

Bietet eine Region attraktive Arbeitsplätze, zieht sie automatisch Menschen an, so die gängige Meinung. Menschen bewegten sich aufgrund von Wohlstandsunterschieden, folgten also dem Geld und zögen sich von einem Ort mit weniger Wohlstand an einen Ort mit mehr Wohlstand.

Die aktuelle Migrationsbewegung aus Afrika Richtung Europa beispielsweise bestätigt diese Auffassung. Sie ist in hohem Mass auf das Wohlstandsgefälle zwischen den beiden Kontinenten zurückzuführen.

Interviews mit Einwohnerinnen und Einwohnern des Kantons Schaffhausen, die für die GDI-Studie «Schaffhausen 2030» geführt worden sind, zeigen indes ein anderes Bild: Es sind Menschen, die den Ausschlag geben. Das Wachstumspotenzial des sozialen Netzwerks spielt eine wichtigere Rolle als das Wachstumspotenzial des Sozialprodukts.

Auch eine Studie zum Migrationsverhalten in verschiedenen Regionen der Europäischen Union kommt zum Schluss, dass es eher soziale Netzwerkeffekte und humankapitalbezogene Charakteristika statt finanzieller Faktoren sind, die die Wohnortwahl beeinflussen. Das bedeutet beispielsweise, dass die Anwesenheit von Personen mit ähnlichen Eigenschaften oder die Verfügbarkeit eines guten Bildungssystems entscheidende Elemente der Wanderbewegungen sind. Wir folgen also nicht blind dem Geld, sondern den Möglichkeiten, die sich dadurch ergeben. Diese Resultate treffen vor allem auf Regionen zu, die bereits einen hohen Wohlstand haben.

Die Kriterien, die über die Wohnortwahl entscheiden, zeigen also eine ähnliche Hierarchie, wie sie sich in Maslows Bedürfnispyramide ablesen lässt: Zuerst müssen die Grundbedürfnisse befriedigt werden, also die harten Standortfaktoren wie Arbeit, Wohnung, Bildung, Sicherheit. Je mehr sie abgedeckt sind, desto wichtiger werden die sozialen Bedürfnisse – weiche Standortfaktoren wie Kultur, Freundschaft, Schönheit.

Natürlich dürfen die harten Standortfaktoren nicht vernachlässigt werden, wenn die gute ökonomische Position einer Gegend sicher bleiben soll. Denn diese harten Faktoren sind eine grundlegende Voraussetzung für nachhaltigen Wohlstand. Doch sie müssen ergänzt werden um eine weitere, entscheidende Komponente – die soziale Energie. In dieser sozialen Energie liegt der Schlüssel für attraktive Regionen der Zukunft.

Eine hohe Lebensqualität hat viel mit sozialen Kontakten zu tun. Wenn Menschen zusammenkommen, dann entsteht Energie. Es handelt sich dabei nicht um Energie im physikalischen Sinne, es handelt sich vielmehr um soziale Energie. Sie entfaltet sich durch Interaktionen in einer Gruppe. Zum Beispiel wenn Freunde eine lebhafte Diskussion führen, an einer Hochzeit feiern oder an einer Beerdigung trauern. Es gibt auch Momente bei Demonstrationen oder nach Fussballspielen, die von viel Energie geprägt sind – Reibung erzeugt Wärme.

Der Soziologe Hartmut Rosa, der den Begriff der sozialen Energie während der Coronakrise geprägt hat, sagt: «Wenn meine Beobachtung zutrifft, dass viele jetzt das Gefühl haben, durch die tendenzielle Isolation ihre Energie verloren zu haben, dann bestätigt das nur die Vermutung, dass die Quelle, welche die Bewegungsenergie der Moderne erzeugt, nicht in den Individuen liegt, sondern in den sozialen Wechselwirkungen zu suchen ist.»

Mit der sozialen Energie bringt man also keine Lampe zum Leuchten und keinen Motor zum Laufen, ermöglicht aber Lebendigkeit, Emotionen und Geschichten. Die soziale Energie ist jedoch nicht nur die Kirsche auf der Sahnetorte. Vielmehr steigert sie die Wirtschaftlichkeit einer Region. Kontakte von Angesicht zu Angesicht gelten als Schlüsselfaktor für den Erfolg einer Stadt. Eine hohe Bevölkerungsdichte schafft Gelegenheiten für solch persönliche Begegnungen und erzeugt dadurch letztlich ein innovatives Klima. Je näher die Menschen zusammenleben, umso grösser ist die Chance, Neuem zu begegnen: Menschen, Ideen, Projekten oder Produkten – ein wichtiger Grund, wieso Grossstädte so viele junge Leute anziehen. Und das hat letztlich Auswirkungen auf den Wohlstand. Im Durchschnitt, so Markus Schläpfer vom Future Cities Laboratory der ETH Zürich, steigt nämlich die Produktivität einer Stadt mit ihrer Grösse: Je grösser eine Stadt, desto mehr Interaktionen gibt es. Das führt zu Innovation. Denn Neues nährt sich hauptsächlich von unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Ideen, Fähigkeiten und Inspirationen.

Eine sozial vibrierende Region entsteht jedoch nicht über Nacht. Denn es ist deutlich einfacher, eine neue Bushaltestelle zu bauen, als die Bewohnerinnen und Bewohner dazu zu bringen, an eben dieser Bushaltestelle ein Gespräch anzufangen. Hierfür werden nicht nur Infrastrukturen, sondern auch Intra-Strukturen benötigt, die offene Räume und Experimentierflächen für Menschen, Unternehmen und Institutionen bieten.

Studie, 2021 (kostenloser Download)

Sprachen: Deutsch
Format: PDF
Im Auftrag von: Projektgruppe Entwicklungsstrategie 2030

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