GDI: Herr Kunkel, einer der Trendbegriffe in Politik und Wirtschaft ist derzeit «De-Risking»: weniger Abhängigkeit von einzelnen Ländern oder Lieferanten, mehr Reserven und Sicherheiten. In welchen Bereichen sehen Sie die grössten Veränderungen?
Max Kunkel: Die Entwicklungen der letzten Jahre haben den Fokus von Regierungen und Unternehmen auf Stabilität und Sicherheit gegenüber Preis und Effizienz sicherlich erhöht. Neben dem Trend hin zu höheren Verteidigungsausgaben rücken vor allem Cyberabwehr sowie die sichere Versorgung mit Energie und Lebensmitteln stärker in den Vordergrund. Zusätzlich entsteht ein «Chip-Nationalismus», der die strategische Bedeutung der Halbleiterproduktion im eigenen Land widerspiegelt.
Also eine Art High-Tech-Protektionismus?
Militärische und wirtschaftliche Sicherheit stützt sich – ebenso wie das Wirtschaftswachstum – zunehmend auf Technologie. Die wachsenden Bedrohungen der Cybersicherheit und die zunehmende Abhängigkeit von digitalen Technologien unterstreichen die Notwendigkeit eigener Halbleiterkapazitäten nach jahrelangem Outsourcing.
Von wem geht in den nächsten Jahren die grösste Gefahr für die Weltwirtschaft aus? Von Vladimir Putin? Von Xi Jinping? Von Donald Trump?
Ich würde hier nicht auf einzelne Politiker abstellen. Geopolitik ist grundsätzlich etwas, worüber man sich Gedanken machen sollte und worüber man sich Sorgen machen kann. Gerade auf unternehmensspezifischer Ebene können gewisse geopolitische Entwicklungen immer wieder zu Anpassungsbedarf führen. Jedoch ist die Auswirkung von realistischeren Szenarien für die Weltwirtschaft häufig nuancierter, kurzweiliger und weniger negativ als vorab oft angenommen. Ein Grund dafür ist, dass häufig die Anpassungsfähigkeit von Menschen und Unternehmen unterschätzt wird. Ein grösseres Risiko für mich sind mögliche Fehler der Zentralbanken. So könnte ein übertriebenes Anziehen der Zinsen über das Ziel hinausschiessen und signifikante Kollateralschäden mit sich bringen.
«Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch», schrieb einst Hölderlin. Woher kommen Ihrer Meinung nach positive Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung?
Kurzfristig wirken weiterhin der starke Arbeitsmarkt, die Fiskalpolitik und die gerade in Europa immer noch hohen Ersparnisse aus der Covid-Zeit unterstützend. In manchen Bereichen bringt die Wiedereröffnung der chinesischen Wirtschaft zusätzlich Impulse.
Und wenn die kurzfristigen Effekte vorüber sind?
Auch längerfristig gibt es Themen mit signifikantem Potential für die Wirtschaft. Und hier spreche ich nicht nur von Künstlicher Intelligenz: Gerade für Europa ist der erhöhte politische, gesellschaftliche und privatwirtschaftliche Fokus auf eine nachhaltigere und effizientere Energiegewinnung und -nutzung eine enorme Chance. Sei es in Bezug auf Automatisierung und Robotik, Elektrifizierung oder Ausbau erneuerbarer Energien.
An der Börse hört man ja oft den schwachen Trost: «Dein Geld ist nicht weg – es hat nur jetzt jemand anderes.» Wie sieht das auf gesamtwirtschaftlicher Ebene aus: Wenn ich durch Inflation und Krise weniger Geld habe – wer hat das jetzt?
Die aktuelle Inflationsentwicklung ist insofern faszinierend, als dass sie nicht wie üblich vornehmlich durch höhere Löhne getrieben wird. Denn in den meisten Industrienationen ist das reale Lohnwachstum seit einigen Monaten sehr negativ. Ein erheblicher Teil der Inflation ist auf Profitmargenausweitung von Unternehmen aus einer Vielzahl von Branchen zurückzuführen. Diese konnten ihre gestiegenen Kosten durch überproportionale Preiserhöhungen mehr als ausgleichen. Im Zuge der medialen Berichterstattung rund um Geopolitik, Lieferengpässe und Arbeitskräftemangel konnten zahlungskräftige Konsumenten davon überzeugt werden, dass diese Preiserhöhungen fair seien. Nach und nach wird dies aber immer stärker hinterfragt – was wiederum die Teuerungsrate dämpfen kann.
Von der Null- oder Negativzinsphase haben besonders diejenigen profitiert, die hoch verschuldet waren. Und wer profitiert jetzt von den zuletzt rapide gestiegenen Zinsen?
Für Sparer sieht es zwar inzwischen deutlich besser aus, jedoch kompensieren die höheren Zinsen häufig noch nicht die Inflationsraten. Für das Minimalziel eines realen Vermögenserhalts ist daher weiterhin ein höherer Anteil an Sachwerten innerhalb einer sinnvollen globalen Diversifikation notwendig. Bei Unternehmen können Banken und Finanzinstitute, die einen großen Teil ihrer Erträge über das Zinsgeschäft erwirtschaften, von den höheren Zinsen profitieren.
Max Kunkel spricht am 7. September auf der 73. Internationalen Handelstagung am GDI über «Wirtschaftsausblick: Was kommt nach der Inflation? Wie sich geopolitische Konflikte und ökonomische Veränderungen auf Wirtschafts- und Kaufkraft auswirken.»