«Es ist mir eine grosse Ehre, den Gottlieb-Duttweiler-Preis entgegenzunehmen, denn dieser Preis trägt den Namen eines aussergewöhnlichen Mannes. Er bezeichnete sich selbst als „einen Revolutionär im Geschäft und einen Konservativen in der Politik“. Und bekanntlich gründete er die Migros, die zu den Top-500-Unternehmen der Welt zählt.
Doch Duttweiler war von sozialen Werten und nicht vom materiellen Gewinn angetrieben. Sein Weg, die Preise zu senken, begann 1925. Nach einigen Jahren als Kaffee- und Zuckerplantagenbesitzer in Brasilien stellte er bei der Rückkehr empört fest, dass der Kaffeepflanzer für seine Arbeit weniger erlöste als der Lebensmittelhändler, der den Kaffee über den Ladentisch reichte. Und aus dieser Erfahrung entwickelte er einen Traum: den Traum, dass niemand Hunger leiden muss, weil sich jeder gute, preiswerte Lebensmittel leisten kann. Um diesen Traum wahr werden zu lassen, dachte Duttweiler kreativ. Er dachte mutig. Und manchmal musste er gegen traditionelle Vorstellungen ankämpfen.
Im Geiste Duttweilers kommen wir auf Einladung des Instituts zusammen, das seinen Namen trägt und sich selbst als einen Ort «der Überwindung von mentalen Grenzen» bezeichnet. Ich möchte, dass wir diese Herausforderung annehmen. Und für die hier versammelten Vertreter vieler der grössten Schweizer Unternehmen habe ich sogar eine doppelte Herausforderung.
Erstens: die mentalen Grenzen zu überwinden, die häufig unsere Wahrnehmung von Afrika bestimmen. Und zweitens: das Beispiel Duttweilers zu bedenken. Sich zu überlegen, wie die Migros zur Entwicklung der Schweiz beigetragen hat und wie heute wirtschaftliche Aktivitäten dazu beitragen können, dass Afrika sein enormes Potenzial ausschöpft.
Unterschiedliche Kulturen
Ohne Zweifel steht Afrika immer noch vor enormen Hindernissen. Der Klimawandel und Krankheiten wie Malaria gefährden den Kontinent. Dieses Jahr haben wir gesehen, dass sich die Zahl der bereits jetzt 200 Millionen hungernden Afrikaner durch die globale Lebensmittelkrise womöglich um weitere 30 Millionen erhöht.
Gewaltsame Auseinandersetzungen hemmen nach wie vor die Entwicklung in einer Reihe von Ländern, wie im Sudan und in Somalia. Und natürlich blicken wir alle mit Sorge auf die Lage in Simbabwe. Doch Afrika ist kein homogener Block. Afrika ist ein Kontinent mit 53 Nationen, mit ganz unterschiedlichen Kulturen, Sprachen, historischen Entwicklungen, Religionen und Lebensweisen. Und trotz dieser Herausforderungen gibt es in etlichen dieser Nationen Fortschritte, sowohl wirtschaftlicher Art als auch im Hinblick auf die Qualität der Staatsführung. Durch diese Fortschritte eröffnen sich für Unternehmen reale Möglichkeiten, rentabel zu arbeiten und dabei einen echten Beitrag zur Verbesserung der Lebenssituation der Menschen zu leisten.
Wachsende Stabilität
In jüngster Zeit hat das bessere Management der afrikanischen Volkswirtschaften zählbare Ergebnisse im Hinblick auf Wachstum und Stabilität gezeigt. Die Wachstumsrate in Afrika lag vergangenes Jahr bei 6,6 Prozent, was sich auf dem ganzen Kontinent in steigenden Realeinkommen für die Menschen niederschlägt.
Ein weiteres Indiz für den wirtschaftlichen Fortschritt ist der enorme Zustrom ausländischer Direktinvestitionen, insbesondere in rohstoffreiche Länder. Die ausländischen Direktinvestitionen nach Afrika stiegen von 2,4 Milliarden Dollar (1985) auf 36 Milliarden im Jahr 2006. Ein Grossteil stammt aus aufstrebenden Wirtschaftsmächten – China, Indien, Brasilien und den Golfstaaten im Mittleren Osten. Solche Investitionen sind ein untrügliches Zeichen für die zunehmende Süd-Süd-Kooperation.
Wir sehen auch, dass viele afrikanische Staaten Schritte in die richtige Richtung unternehmen, um Sicherheit und eine gute Staatsführung zu gewährleisten. In den vergangenen vier Jahren fanden in Afrika mehr als fünfzig demokratische Wahlen auf allen Ebenen statt. Diese Tendenz wird durch Initiativen wie den «African Peer Review Mechanism» unterstützt, dem zu Beginn dieses Jahres 28 Länder beigetreten sind. Und durch neue Initiativen wie den Ibrahim-Index: Erstmals unterwirft dieser jährliche Index alle südlich der Sahara gelegenen Länder einem Ranking im Hinblick auf die Qualität ihrer Staatsführung. Dabei liefert er objektive und zugängliche Daten für die afrikanische Zivilgesellschaft, die damit ihre Regierungen zur Rechenschaft ziehen kann.
Ich stelle Sie vor die Herausforderung, im Zusammenhang mit Afrika nicht nur an Kriege, Hungersnöte, Armut und Katastrophen zu denken. Wir müssen in Afrika auch die positiven Beispiele wie Botswana, Mosambik, Namibia und mein Heimatland Ghana sehen. Um den Weltbankpräsidenten Robert Zoellick zu zitieren, müssen wir an die «afrikanischen Geparden» denken, die in diesem Jahrzehnt das Äquivalent der asiatischen Tiger sind. Wir müssen Afrika als einen Kontinent voller Möglichkeiten begreifen, dessen Menschen einen Platz in der globalisierten Wirtschaft verdient haben und nicht links liegen gelassen werden dürfen.
Vernetzte Infrastruktur
Die mangelnde institutionelle Leistungsfähigkeit in vielen afrikanischen Ländern bleibt ein Problem. Selbst in Ländern, die ihre demokratischen Strukturen festigen, kann das Fehlen stabiler Rechtsvorschriften, von Versicherungssystemen und infrastrukturellen Einrichtungen für Geschäftsinvestitionen abschreckend sein. Hier kommt der Privatwirtschaft eine wichtige Rolle zu. Die von meinem guten Freund Mo Ibrahim gegründete Mobilfunk-Firma Celtel ist dafür ein hervorragendes Beispiel.
Handys haben in Afrika einen riesigen Multiplikatoreffekt. Mit einem Handy kann ein Fischer oder Bauer die Marktpreise erfahren und entscheiden, wo er seine Produkte verkauft, um den besten Preis zu erzielen. Handys werden verstärkt genutzt, um Mikrokredite bereitzustellen, die wiederum eine wichtige Rolle spielen, um jungen Menschen eine Arbeit zu geben und die unternehmerische Selbstständigkeit von Frauen zu fördern. So hat Celtel nicht nur Gewinne gemacht, sondern in den Ländern, in denen sie tätig ist, wesentliche Elemente der Infrastruktur aufgebaut. Dabei hat sie einen grossen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung geleistet.
Die Schweiz blickt auf eine über hundertjährige Handelstradition mit Afrika zurück. Heute sind zahlreiche Schweizer Unternehmen mit Niederlassungen überall auf dem Kontinent vertreten, und in vielen dieser Unternehmen gibt es wichtige Verfahrensweisen zur unternehmerischen Sozialverantwortung. Und Sie haben nun die Möglichkeit, Ihr Engagement auszuweiten. Gottlieb Duttweiler senkte die Kosten der Grundnahrungsmittel und Dienstleistungen für die Menschen dieses Landes. Es gibt keinen Grund, warum Unternehmen heute nicht dieselbe Rolle für Millionen von Menschen in Afrika übernehmen können.
Innovative Tradition
Es ist gute Schweizer Tradition, an der Spitze der Innovation im Hinblick auf Entwicklung und humanitäre Ideen zu stehen. Und ich ermutige Sie, sich zu überlegen, wie Ihr Unternehmen durch jeden Aspekt seiner Tätigkeit zur Entwicklung in den Ländern, in denen es tätig ist, beitragen kann. Wenn die Globalisierung für eine Mehrheit funktionieren soll, wenn wir uns um die langfristige Nachhaltigkeit unseres Planeten sorgen und wenn es uns wichtig ist, eine Welt mit mehr Gerechtigkeit und Gleichberechtigung zu schaffen, kann nicht länger hingenommen werden, dass ein Unternehmen nur die Mindestanforderungen erfüllt.
Es ist wichtig, die Korruption zu vermeiden, doch das allein reicht nicht aus. Es ist auch wichtig, keinen Schaden im Hinblick auf Menschenrechte und Umwelt anzurichten, doch das allein ist auch nicht genug. Die echte Herausforderung liegt darin, sich zu überlegen, wie die Unternehmen die Kosten für die armen Länder und armen Menschen senken können, damit diese sich mit Waren und Dienstleistungen versorgen können, ganz gleich, ob sauberes Wasser, grundlegende Haushaltsartikel, Kleidung, Nahrung, Medikamente, Verkehrsverbindungen, Informationen, Versicherungen oder Kredite. Es ist möglich! Das Geschäft kann sich sowohl für die Aktionäre als auch für die armen Kunden lohnen.
Es kann auch mehr getan werden, um Wertschöpfungsketten so aufzubauen, dass in Afrika Einkommen und geschäftliche Möglichkeiten geschaffen werden. Ohne Frage können und müssen die Regierungen mehr tun, um das geschäftliche Umfeld attraktiver zu gestalten. Aber die Privatwirtschaft kann eine Führungsrolle übernehmen. Das ist, was Gottlieb Duttweiler getan hätte. Nur wenn Unternehmen die Entwicklung als ein Kernelement ihrer Strategie begreifen, werden sie langfristig zukunftsfähig sein.
Sicher leben
Natürlich liegt die Entwicklung Afrikas in erster Linie in der Verantwortung der afrikanischen Nationen. Sie müssen den politischen Willen zeigen, Nationen zu schaffen, in denen die Menschen sicher leben können und in denen es die sozialen und wirtschaftlichen Möglichkeiten gibt, um den Unternehmergeist vor Ort und ausländische Investitionen zu fördern. Die internationale Gemeinschaft muss das durch Einhaltung ihrer Hilfszusagen an Afrika unterstützen und, noch wichtiger, durch Schaffung eines gerechteren globalen Handelssystems. Afrika wird sein Potenzial nur verwirklichen, wenn es zu fairen Bedingungen Zugang zu den Weltmärkten hat. Das erneute Scheitern der globalen Handelsgespräche im Rahmen der Doha-Runde im Sommer dieses Jahres war ein schweres Versagen der reicheren Nationen. Damit scheiterte ein Versuch, Länder und Gebiete zu unterstützen, die ausgeschlossen sind und von der Globalisierung zurückgelassen wurden. In dieser Welt ist die ungleiche Verteilung des Wohlstands aufgrund der aktuellen Regeln des Handels nicht mehr zukunftsfähig, denn sie wird nur zu Polarisierung und Konfrontation führen.
Eigener Weg
Ich bin fest davon überzeugt, dass Afrika Fortschritte macht, und es liegt in unser aller Interesse, dass dies geschieht. Vor acht Jahren erklärten die politischen Führer der Welt in den «Millennium Development Goals» ihre Entschlossenheit, «unsere Mitmenschen – Männer, Frauen und Kinder – aus den erbärmlichen und entmenschlichenden Lebensbedingungen der extremen Armut» zu befreien. In diesem Jahr ist mehr als die Hälfte der Zeit bis zum Jahr 2015 verstrichen, in dem wir die Ziele erreicht haben wollen. Es ist klar, dass mehr getan werden muss, wenn die gemachten Versprechungen erfüllt werden sollen.
Durch die rasche wirtschaftliche Entwicklung Asiens in den letzten Jahren haben sich mehrere hundert Millionen Asiaten aus der Armut erhoben. Afrika muss seinen eigenen Weg gehen, die Parallelen zu den Erfahrungen Asiens sind begrenzt. Doch wenn alle Akteure zusammenarbeiten, gibt es keinen Grund, warum wir im kommenden Jahrzehnt nicht auch in Afrika dieselben Veränderungen sehen sollten.
Wir stehen vor grossen Herausforderungen, aber wenn wir mit derselben Kreativität und demselben Mut wie Gottlieb Duttweiler handeln, werden wir nach meiner festen Überzeugung erleben, dass sich Afrika in diesem Jahrzehnt zu einem neuen Ort der Möglichkeiten erhebt.»
Kofi Annan hielt diese Rede anlässlich der Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-Preises am 8. September 2008 am Gottlieb Duttweiler Institut. Die deutsche Übersetzung erschien erstmals im Wissensmagazin «GDI Impuls».
kofi_anan_speech_gdi_impuls_4_08.pdf