Dies ist ein Auszug eines Interviews aus dem «Migros-Magazin». Lesen Sie das ganze Interview hier.
Peter Sloterdijk, teilen Sie die Diagnose, dass wir derzeit in der westlichen Welt eine Rückkehr des vormodernen Stammesdenkens erleben?
Es handelt sich nicht um eine «Rückkehr», vielmehr wird uns eine Tatsache wieder bewusst, die während der gesamten menschlichen Evolution galt. Das Stammesdenken ist lediglich zeitweilig überdeckt worden und kommt nun erneut zum Vorschein.
Wodurch wurde es denn überdeckt?
Vom Mythos der Nation. Seit der Entwicklung der Nationalstaaten im 18. Jahrhundert sollten sich die Angehörigen eines Volkes als «Kinder des Vaterlands» verstehen. Die «Marseillaise» spricht Klartext, wenn sie an die «enfants de la patrie» appelliert.
Hat die Globalisierung zur Aufdeckung des Stammesdenkens beigetragen?
Viele fühlen sich von ihr überfordert und sehnen sich nach kleineren, überschaubaren Einheiten. Diese Deutung schiesst, glaube ich, über das Ziel hinaus. In ihr schwingt die Idee eines Rückschritts mit, und das trifft auf den Tribalismus nicht zu, wie ich ihn verstehe. Dieser ist grundlegend für das Menschsein an sich. Es ist doch nicht so, dass man sich in den Schoss eines Stammes flüchtet. Vielmehr spielt sich die Lebenswirklichkeit meist immer schon im Rahmen einer Grossfamilie oder eines Freundeskreises ab, in einer Gruppe, die etwa so viele Personen umfasst wie ein privates Adressbuch. Allerdings hat die moderne Gesellschaft vielen eine bedrohlich wirkende Vereinzelung eingebracht und sie in eine künstliche Einsamkeit getrieben – daraus wollen sie sich befreien.
In den USA scheint der Tribalismus schon besonders weit zu sein: Der Stamm der Republikaner und jener der Demokraten sind sich spinnefeind und können kaum noch miteinander sprechen. Aber auch in Europa streiten sich die Abschotter und die Globalisten.
Und das schon seit der Entdeckung Amerikas. Eine kleine Minderheit hatte sich damals für die Welt geöffnet und den Atlantik und seine Potenziale anerkannt, der Rest krallte sich am Boden der Heimat fest. Mit der industriellen Revolution und ihren Folgen haben sich die Unterschiede zwischen den Atlantikern und den Kontinentalen noch weiter vertieft. Heute zeigen sie sich exemplarisch bei den Globalisierungsfreunden und -feinden.
Politisch setzt sich derzeit mal die eine, mal die andere Seite durch – welche wird letztlich gewinnen?
Ich denke, es wird unvermeidlich ein längeres Hin und Her geben. Aber der Globalisierungsprozess ist unumkehrbar, er kann gar nicht anders, als weiterzugehen, denn wir hören nicht auf, Erfindungen zu machen, zu produzieren und zu konsumieren. Alle Signale stehen also auf Öffnung und Vernetzung, deshalb wird sich diese Seite letztlich durchsetzen, dessen bin ich mir sicher. Natürlich wird es immer lokale Gegenbewegungen geben, die aber an ihrer Negativität scheitern werden, wie etwa die Antiglobalisierungsbewegung in Frankreich.
Am 22. Januar 2018 analysierte der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk an der GDI-Konferenz «die Rückkehr der Stämme» das Phänomen des Tribalismus.
Dies ist ein Auszug eines Interviews aus dem «Migros-Magazin». Lesen Sie das ganze Interview hier.