Näher, kleiner, spannender: Wofür der Handel morgen noch Fläche braucht

Nicht erst seit der Covid-Krise zeigt sich die Dynamik im Online-Handel: kein Retail-Konzept, das nicht digitalisiert werden kann. Doch wie steht es um die physischen Handelsflächen? Was bleibt, was verschwindet, was benötigt mehr Fläche?
5 August, 2021 durch
Näher, kleiner, spannender: Wofür der Handel morgen noch Fläche braucht
GDI Gottlieb Duttweiler Institute

GDI_Flaechenverschiebung_11.pdf

«Convenience» bedeutet in erster Linie Bequemlichkeit, Geschwindigkeit und Einfachheit. Vom Handel im eigentlichen Sinne merkt der Konsument dabei kaum etwas. Dieser findet mehrheitlich unsichtbar im «Backend» statt. Bei «Experience» suchen wir eher nach Sinnlichkeit und Inspiration. Der Faktor Zeit steht dabei unter einem anderen Vorzeichen: Mehr ist mehr. In diesem Kontext kann der Handel Teil des Erlebnisses sein und findet durchaus bewusst im «Frontend» statt. Der Handel, der Tausch von Werten und Gütern wird zelebriert.

Zwischen diesen beiden Polen spannt sich die Vielfalt der Retail-Formate auf. Die jeweilige Positionierung zu Convenience und Experience beeinflusst die Flächenbedarfe im Handel – zumindest in den kommenden Jahren, bevor diese Ausrichtungen beispielsweise durch Extended Reality wieder zu «Convenience Experience» zusammen fliessen. Technologischer, ökonomischer und sozialer Wandel führt zu einer Neuausrichtung der Bedarfe. Wenn etwa der Gipfel der Convenience nicht mehr «alles unter einem Dach» heisst, sondern «alles direkt nach Hause», hat das nicht nur Folgen für das Warenhaus, sondern für alle Handelskategorien. 

Wir haben die Entwicklungen der traditionellen wie aber auch neu entstehenden Kategorien etwas genauer unter die Lupe genommen. Die Infografik zeigt, wofür die Fläche benötigt wird, wie gross die genutzten Flächen sind, wie sie sich in den nächsten drei bis fünf Jahren entwickeln dürften und wo sie sich befinden.

Nicht nur müssen wir alle uns täglich ernähren, Essen ist das Erlebnis schlechthin und passiert mit allen Sinnen. Regionalität, Bioanbau, Tierwohl: Wir leisten uns höhere Ausgaben für das Essen und achten immer mehr darauf, woher es kommt. Das fördert eine Eventisierung rund um das Essen, die sich auch in den Städten in Märkten, Foodhalls, Spezialitätenhändlern, in Delivery, Convenience, ToGo und Gastronomie manifestiert.

Fashion und Lifestyle haben es schwer. Die Umsätze sind seit Jahren rückläufig. Nicht nur kann seit Einzug digitaler Händler wie Zalando und Co. Kleidung in grösserer Auswahl online geshoppt und nach Hause geliefert werden, auch der Bedarf nach und der Anspruch an Mode hat sich bei den Konsumentinnen und Konsumenten verändert. Upcycling, Secondhand oder nachhaltig produzierte Kleider werden immer beliebter. Auch hier etablieren sich global operierende Online-Plattformen. Der physische Handel kann in diesem Segment nur noch mit Experience punkten: Anstatt auf der Fläche jedes Stück mehrfach in jeder Grösse und Farbe verfügbar zu haben, werden die Flächen zur Erlebnisfläche für die Marke. Gekauft wird online, oder die Ware wird in der gewünschten Grösse gleichentags nach Hause geliefert.

Alles kann bequem nach Hause kommen: vom Tandoori Chicken, über die Gesichtspflegemaske bis hin zum personalisierten Tennisschläger. Mehr Convenience geht kaum. In den Städten stösst hierduch allerdings die tradierte Lieferlogistik an Grenzen, die Strassen und Wohnungseingänge mit Paketen verstopft. Doch eine Dezentralisierung der Logistik durch Microhubs kann Abhilfe schaffen: Nicht nur Küchen werden geteilt und zu Ghost Kitchens, auch Lager und Logistik können von Händlern gemeinsam betrieben werden.

Grosse Shoppingmalls und Einkaufscenter am Stadtrand verlieren an Bedeutung. Nähe gewinnt, wie die Idee der 15-Minuten-Stadt oder die Wiederentdeckung der Nachbarschaft während der Covid-19-Krise zeigen: Einkauf und Dienstleistungen sollen in kurzen Wegen zu Fuss oder mit dem Velo erreicht werden können. In verdichteten Städten bedeutet das oft auch die Verkleinerung der Formate und eine Fokussierung im Sortiment. Verbunden mit einer Microhub-Logistik wird das Angebot dadurch jedoch nicht zwingend reduziert, sondern neu organisiert.

Schnell mal zum Frisör, die Nägel machen lassen oder aufs Laufband. Lifestyle-Services rund um das menschliche Wohlbefinden, Schönheit und Gesundheit nehmen zu und differenzieren sich weiter aus. Sie benötigen wenig Fläche und Infrastruktur.

Flächen flexibel und kurzfristig einsetzen zu können ist nicht erst seit den Pop-Up-Konzepten ein beliebtes Modell. Mit dem Einzug von teilweise auch vollautomatisierten Container-Shops wird der Handel anpassungsfähig. Event vorbei, Container weg. 

Ländliche Orte verlieren ihre Banken, Poststellen und lokalen Lebensmittelläden. Mit der steigenden Mobilität versorgen sich die Menschen anderswo, bediente Verkaufsflächen mit einem grossen Angebot an frischen Lebensmitteln lohnen sich kaum mehr. Eine nachhaltige, durch die Covid-19-Krise beflügelte Landflucht ist eher unwahrscheinlich. Doch Automatisierung und Flexibilisierung der Shops bieten Chancen für die ländlichen Versorgungspunkte. Sie können ebenso effizient von den grossen Detaillisten wie von lokalen Versorgern betrieben werden. 24/7-Betrieb und automatische Eingangs- und Zahlungsprozesse inklusive.

Hinweise:
Die Übersicht erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit der Konzepte. Der Fokus liegt auf dem Konzept europäischer Stadtstrukturen. Der Zeithorizont bezieht sich auf die nächsten drei bis fünf Jahre.
Quellen: GfK Detailhandel Schweiz 2021, EHI Handelsdaten 2021 Expertise: GDI, WSL Strategic Retail NYC

IHT 2021 Visual

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Hashtag: #iht21

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