Die Spuren der Pandemie: Wie wir im Notfall näher zusammenrücken

In Zeiten der Selbstisolation und Quarantäne haben viele Menschen sich nach sozialen Kontakten gesehnt. Konnte die Nachbarschaft eine Rolle im sozialen Netz übernehmen? In der GDI-Studie «Hallo Nachbar*in» werden die verschiedenen Nachbarschaftsverhältnisse in der Schweiz quantitativ und qualitativ untersucht. Haben diese sich durch die Massnahmen während der Corona-Pandemie verändert? Sind die Distanzen grösser oder kleiner geworden? Oder ist doch alles beim Alten geblieben?
10 November, 2022 durch
Die Spuren der Pandemie: Wie wir im Notfall näher zusammenrücken
GDI Gottlieb Duttweiler Institute

Der nachfolgende Text basiert auf einem Auszug aus der GDI-Studie «Hallo Nachbar*in. Die grosse Schweizer Nachbarschaftsstudie», die über unsere Website bezogen werden kann. Die Studie beruht auf einem mehrstufigen Vorgehen mit qualitativen Interviews (Wertemonitor) und einer repräsentativen quantitativen Befragung. Zuerst wurden die Werte und Parameter erhoben, die Menschen mit Nachbarschaft verbinden. Anschliessend wurde in einer quantitativen Umfrage (Wertewelten Nachbarschaft) gemessen, wie gross die Gruppen sind, die in der Schweiz zu den jeweiligen Werteclustern gehören. Die Auswertung der beiden methodisch unterschiedlichen Untersuchungen, die sich gegenseitig ergänzen, ermöglicht eine fundierte Analyse der Nachbarschaftsbeziehungen in der Schweiz.

Verbundenheit und Abgrenzung
Die Pandemie war von Distanz geprägt. Abstand halten war Pflicht, gerade gegenüber FreundInnen und Familie. Kaum verwunderlich, dass sich die Menschen nach Nähe sehnten. Doch für viele blieb die physische Begegnung auf die Beziehung zu ihren NachbarInnen reduziert. Dank der räumlichen Nähe begegnete man ihnen automatisch. In der Folge pflegte man die Verbundenheit zu den NachbarInnen, man rückte einander näher. Dennoch: Auch wenn nach der Pandemie die Nachbarschaftsbeziehungen nicht mehr ganz so oberflächlich sind wie zuvor, wünschen sich die meisten Menschen nun doch wieder etwas mehr Distanz.

Gemeinschaft und Egoismus
Das Interesse an den Perspektiven der anderen ist grundsätzlich gross, war es vor der Pandemie und ist es danach. Es mag kontraintuitiv erscheinen – doch während der Pandemie sank das Interesse an den Werten der anderen deutlich. Viele Menschen konzentrierten sich auf ihre eigenen Probleme. Man half sich aus, ohne grundsätzlich gemeinschaftlichen Aktivitäten mehr Platz im Leben einräumen zu wollen. Vielmehr zählte das pragmatische Arrangement mit dem Wohnumfeld. Es ging nicht um Freundschaft, sondern um das Zusammenstehen in einer Notsituation. Bilanz der Pandemie: In einer Notsituation kann man sich auf die NachbarInnen verlassen, doch letztlich wünscht man sich kein grundsätzlich anderes Verhältnis zu ihnen.

Gemütlichkeit und Unbehagen
In der Pandemie wurde in Nachbarschaften mehr Wert auf Naturverbundenheit und Ruhe im Alltag gelegt. Man fühlte sich in der Verantwortung gegenüber den NachbarInnen. Doch nach der Pandemie zog die Alltagshektik wieder in die Nachbarschaften ein und damit die Unverbindlichkeit im Umgang miteinander. Eine Spur der Verpflichtung aus Pandemiezeiten allerdings blieb haften, schliesslich hatte man sich näher kennengelernt.

Egozentrik und Toleranz
Toleranz gegenüber seinen NachbarInnen war bereits vor der Pandemie wichtig. In der Pandemie war man pragmatisch und maximal tolerant. Schreiende, spielende Kinder wurden mehr hingenommen, NachbarInnen waren sich bewusst, dass Eltern wegen des Homeschoolings unter grossem Stress standen. Man ging respektvoll miteinander um und balancierte das Nähe-Distanz-Verhältnis permanent neu aus. Vieles davon wollen sich NachbarInnen auch nach der Pandemie bewahren.

Anpassung und Exklusivität
Der Wunsch nach Abgrenzung und Rückzug gegenüber den NachbarInnen nahm während der Pandemie deutlich ab. Man liess sich weniger zu Streitereien provozieren, passte sich flexibler an. Regeln wurden auch mal locker interpretiert. Doch die Anpassung hat Grenzen. Nach der Pandemie wächst der Wunsch nach einem Umfeld von Gleichgesinnten wieder.

Eintönigkeit und Vielfalt
Vor der Pandemie haben die Menschen häufig weitere Wege in Kauf genommen, um soziale Vielfalt zu erleben. Jetzt entdecken sie Vielfalt in der Nachbarschaft und öffnen die Augen für die Andersartigkeit von NachbarInnen. Viele Menschen wollen diese Erfahrung nachhaltig bewahren. Der Blick auf das Lokale hat sich geschärft.

Aufdringlichkeit und Rückzug
Rückzug war ein globaler Zustand – ob man das wollte oder nicht. Man blieb unter sich und lebte seinen individuellen Lebensstil voll aus – zumindest an den eigenen Rückzugsorten. Während der Pandemie nahm der Wunsch nach Anonymität kurzzeitig ab, um danach wieder zurückzukehren. Dass Menschen via Zoom in die Privatsphäre eindringen, ist dauerhaft nicht erwünscht.

Auch wenn die Menschen in der Pandemie mehr Verantwortung für ihre Mitmenschen übernahmen und sich kamen, haben sich die Nachbarschaftsverhältnisse nicht grundlegend geändert. Dennoch sind die dazugewonnene Toleranz und soziale Nähe Aspekte, die den NachbarInnen in Zukunft wichtig bleiben werden.

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