Daten-Selfie: Spiegelbild im Netz

Wie sehen Maschinen uns? Was wissen und denken sie über Menschen? Durch die permanente Datensammlung lässt sich ein digitales Abbild erschaffen – das Daten-Selfie. Ein ehrliches Foto-Selfie? Zumindest beleuchtet es auch unsere Schattenseiten.
12 Oktober, 2017 durch
Daten-Selfie: Spiegelbild im Netz
GDI Gottlieb Duttweiler Institute

Alles, was wir tun, was wir suchen, was wir kaufen, lesen, «liken», mit wem wir reden, wohin wir gehen, verwandelt sich in Daten. Wenn man alle diese Daten sammelt, aggregiert und speichert, entsteht daraus eine Art digitaler Doppelgänger. Dieser setzt sich zusammen aus Surf-History, Status-Updates, GPS-Standorten, Kreditkartentransaktionen, Likes und Beiträgen in Blogs, Facebook und Twitter. In Zukunft kommen immer mehr Daten aus weiteren Quellen – Wearables und Sensoren in und um uns – in Echtzeit dazu.

Je mehr Daten eingespiesen werden, umso besser und dichter wird das Daten-Modell oder Daten-Selfie. Während der Begriff «Selfie» gemeinhin für Selbstporträtfotografien verwendet wird, bezieht sich der Begriff «Daten-Selfie» darauf, wie andere und wie wir uns selbst durch die Technik sehen.

Daten über unsere Aktivitäten zu sammeln und zu verwenden, gilt bereits als selbstverständlich. Die Technologie, die Gefühle und bald auch Gedanken liest, steht jedoch noch am Anfang. Allerdings kommen laufend neue Anwendungen dazu. Eine finnische Forschergruppe untersucht zum Beispiel, wie der Körper Gefühle zum Ausdruck bringt und misst dies durch Temperaturschwankungen.

Wenn man wütend ist, werden das Gesicht, der Kopf und die Arme heiss. Wenn man depressiv ist, werden Kopf und Arme von einer kalten Taubheit erfasst. Liebe löst ein warmes Leuchten im gesamten Oberkörper aus, besonders ums Herz herum. Menschliche Emotionen, so hat eine Studie ergeben, stehen in direktem Zusammenhang mit Empfindungen in bestimmten Körperteilen. Der Vergleich zwischen verschiedenen Kulturen zeigt zudem, dass das Wahrnehmen von Gefühlen universell weitgehend identisch ist.

«Psychometric devices», also Kleider mit Sensoren, die u.a. die Körpertemperatur messen, könnten somit jederzeit wissen, wie sich jemand fühlt und wie sich die Gefühle im Kontext von verschiedenen Situationen und Personen ändern.

Die ersten Prototypen von «psychometric devices» sind bereits auf dem Markt. Der BH «True Love Tester», den der japanische Dessous-Shop Ravijour designt hat, lässt sich zum Beispiel nur öffnen, wenn sein Verschluss «wahre Liebe» spürt. Diese ermittelt er mithilfe eines Sensors, der die Dopamin-Konzentration in der Haut misst – den Wert des auch «Glückshormon» genannten Botenstoffs.

Im Unterschied zur Liebe wird Stress seit vielen Jahren vermessen, vorwiegend im Labor – neuerdings jedoch auch auf dem Laufsteg. Die aktuelle Kollektion des aus Zypern stammenden Londoner Modedesigners Hussein Chalayan projizierte bei der Pariser Fashionweek 2017 den Stresszustand seiner Models auf eine Wand neben dem Laufsteg, berechnet aus den aktuellen Werten für Herzschlag und Atemfrequenz, die von deren Gürteln gemessen wurden, sowie der Gehirnaktivität, aufgezeichnet von Elektroden in der Sonnenbrille.

Wenn selbst Kleidung weiss, was wir fühlen, ist der Weg zum kompletten digitalen Abbild nicht mehr weit. Das Daten-Selfie ist gewissermassen ein smarter Spiegel, mit dem wir uns selbst aus verschiedenen Perspektiven beobachten können. Es widerspiegelt unsere (latenten) biologischen, emotionalen, mentalen und sozialen Stärken, Schwachstellen und Schmerzpunkte mit immer grösser Präzision.

Selfie ist nicht gleich Selfie. Im Gegensatz zu einem Foto-Selfie bildet das Daten-Selfie nicht nur die äussere Schicht einer Person ab, sondern zeichnet auch ihr biologisches und emotionales Innenleben auf – ihren Biorhythmus, ihre Bewegungen und ihre Beziehungen. Im Daten-Selfie werden Dinge sichtbar, die bisher schwer oder höchstens punktuell fassbar waren. Dank Datenmengen durch Fitness-Trackers, Wearables und Implantate können Emotionen immer präziser gemessen werden – und auch wodurch sie ausgelöst werden.

Ein weiterer Unterschied stellt der Darstellungsfokus dar. Während es beim Foto-Selfie darum geht, die besten Seiten von uns hervorzuheben, visualisiert das Daten-Selfie die versteckten, unbewussten Körpersignale. So entsteht ein transparentes Bild, spiegeln doch digitale Daten unsere tatsächlichen Aktivitäten und Sehnsüchte wieder. Dies zudem mit einer höheren Wiedergabetreue als unsere eigenen Erinnerungen.

Das Daten-Selfie ist zudem nicht statisch wie ein herkömmliches Selfie, sondern dynamisch. Es kann zeigen, wie sich die Stimmungen und das Wohlbefinden verändern, wer und was uns beeinflusst, stresst oder glücklich macht. Es zeigt, wann wir müde werden, eine Pause oder Aufmunterung brauchen. An die Stelle der Momentaufnahme tritt eine Langzeitaufzeichnung, die zeigt wie sich jemand verändert und lernt.

Die technologische Entwicklung ermöglicht es, immer mehr und vorallem präzisere Daten über uns selbst zu sammeln. Das Daten-Selfie ist gewissermassen ein smarter Spiegel, mit dem wir uns selbst aus verschiedenen Perspektiven beobachten können – unverzerrt und brutal ehrlich.

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