Medienmitteilung
2. Juli 2008, GDI Gottlieb Duttweiler Institute, Rüschlikon/ZH: GDI-Trendradar 2.08

Was ist Hyperlocality? Worum geht es bei demokratischer Exklusivität? Und wer hat uns die Freizeit gestohlen? Die Forscher des GDI Gottlieb Duttweiler Institute in Rüschlikon/Zürich beschreiben eine Reihe von gesellschaftlichen Einflüssen und Entwicklungen. Der internationale Think-Tank erklärt zudem, warum Läden derzeit schrumpfen oder wer uns Grossmutters Wissen vermittelt.

Ökologie: Von grüner Welle zu grüner Verwirrung
Bis jetzt war alles ganz einfach: «Bio», «regional» und «natürlich» garantieren gesunde, qualitativ hochwertige und umweltschonende Produkte. Deshalb gaben bewusste Zeitgenossen immer mehr Geld aus für lokal und ökologisch Hergestelltes, deshalb verschmähten sie genetisch veränderte Nahrungsmittel. Nun werden jedoch Stimmen laut, die dem «bewussten Konsum» misstrauen. Schlimmer noch: Die Zweifler stammen ausgerechnet aus den Reihen der Umweltbewussten. Selbst ein so profilierter Umweltschützer wie Greenpeace-Mitgründer Patrick Moore befürchtete schon öffentlich, gerade die traditionellen «grünen» Vorstellungen schadeten der Natur im Grunde. Tatsächlich sind manche Agrarprodukte aus der Ferne CO2-ärmer als ihre Pendants aus der Nähe. Auch könnte dank genetisch veränderten Pflanzen der Einsatz von Dünger vermindert werden. Und dicht gebaute Städte sind viel energieeffizienter als die ausgedehnten Einfamilienhäusersiedlung der Suburbs. So wird, was heute als naturbewusster Lebensstil gilt, von Experten zunehmend widerlegt. Nach der grossen grünen Welle droht die grosse grüne Verwirrung.

Exklusivität: Von mehr für weniger zu weniger für mehr
«Momofuku Ko» in New York hat genau 14 Plätze, die nur einzeln und nach dem Prinzip «first come first serve» vergeben werden. Das In-Lokal ist täglich innert weniger Sekunden ausgebucht, und selbst Oscarpreisträger erfahren in David Changs neuem Feinschmecker-Restaurant keine Vorzugsbehandlung. Solche Verknappung spielt auch in einer wachsenden Zahl von Member-Only-Clubs und -Shops, an Konzerten und bei Fussballspielen, die immer mehr zu VIP-Veranstaltungen werden. Selbst H&M und Gap bieten limitierte Kollektionen an, derweil das Modelabel Clemens en August seine Kreationen nur zwei Mal im Jahr für jeweils drei Tage in ausgewählten Galerien und Museen präsentiert und verkauft. Basis dieser «Exklusivität für alle» ist unsere immer flachere Konsumwelt. Sie schürt die Sehnsucht nach Elitärem und Privilegien, um sich von den anderen abzuheben. Limitierter Zugang und limitierte Kollektionen erzeugen willkommene neue Hierarchien. Dennoch steht die Demokratie für die neuen sozial engagierten Reichen – die «Scuppies» (=socially conscious upwardly-mobile people) – nicht zur Disposition. Sie wollen beides zugleich, mehr Demokratie und mehr Exklusivität. Zumal Objekte von demokratischer Exklusivität ihren Besitzern mehr Statusfaction verschaffen als Luxus-Raritäten, die nur wenige kennen und begehren.

Einzelhandel: Von Wal-Mart zu Small-Mart
«Big Boxes» waren lange das Erfolgkonzept von Handelsriesen wie Walmart oder Tesco. Doch jetzt kommen die grossen Super- und Verbrauchermärkte auf der grünen Wiese unter Druck. Steigende Benzinpreise, veränderte Einkaufsgewohnheiten und der wachsende Kundenwunsch nach übersichtlicheren Angeboten setzen ihnen zu. Darum schlägt Tesco mit einer Zwergenstrategie neue Wege ein – ausgerechnet im gigantischen US-Markt. Mit Fresh & Easy (viel Frische, bequem zubereitbar) hat der innovative britische Branchenführer in Kalifornien Ende 2007 ein neuartiges Format auf den Markt gebracht. Entscheidend ist die Grösse: Mit jeweils bescheidenen 900 Quadratmetern Ladenfläche hat sich Tesco ganz nach dem Vorbild von Tante Emma in der Nachbarschaft seiner Kunden niedergelassen. Und wie es sich für einen guten Nachbarn gehört, passt er sich den lokalen Gegebenheiten an: Das Sortiment jeder Filiale wird sorgfältig auf die Vorlieben der lokalen Kunden abgestimmt. Die Zukunft gehört kleineren Vertriebskonzepten.

Technologie: Von Window- zu Geo-Shopping
Es bahnt sich eine technologische Entwicklung an, die unser Verhältnis zueinander und zu allen Dingen um uns radikal verändern wird: «Hyperlocality», wo alle Geräte und Objekte vernetzt und örtlich lokalisierbar sind; wo die physische und die digitale Welt miteinander verschmelzen. Schon heute präsentieren uns Plakate der Automarke Mini individualisierte Werbung, wenn wir an Ihnen vorbeifahren. Und schon heute gibt es Entwürfe für Bildschirme in Kontaktlinsen. Dennoch ist die neue Hybridwelt erst ein plumper Prototyp. In naher Zukunft hingegen wird ein Grossteil der Dinge mit RFID- und GPS-fähigen Computerchips versehen sein. Die Objekte um uns herum werden dadurch anklickbar: Informationen zum Kinofilm auf einer Plakatwand? Kooaba.com verknüpft Handyfotos mit einer Bilderkennung für Filmplakate und bedient uns mit Hintergrundwissen, Trailern und Reservationsmöglichkeit. Die Abfahrtszeiten der Strassenbahn? Ein Klick aufs Tram – und schon ist der Fahrplan im Display. Das hübsche Kleid einer Passantin? Klick, und wir erhalten Marke, Preis und lieferbare Farben. Ein weiterer Klick löst die Bestellung aus. Geo-Shopping: Der Laden kommt zum Kunden. Hyperlocality verwandelt die ganze Welt in eine riesige Shopping-Zone.

Anbauschlacht: Von fixfertigen zu hochwertigen Produkten
Im Convenience-Paradies Amerika floriert der Eigenanbau. Laut dem nationalen Gartenverband geben Amerikaner heute 25 Prozent mehr für Gemüsegärten aus als 2006. Damals machte verdorbener Spinat den Konsumenten Angst, seit April sind es «Salmonellen-Tomaten». Verseuchte Paradiesäpfel vermiesen den verunsicherten Essern nationale Leibspeisen wie Burgers oder Tacos. Darum möchten die besorgten Konsumenten genau wissen, woher das Gemüse auf ihren Tellern stammt. Jetzt hat die US Food and Drug Administration FDA offiziell bestätigt, selbstgezogene Tomaten seien unbedenklich. Doch der Trend zur Selbstversorgung wird auch über den Tomatenskandal hinaus andauern. Denn er beruhigt nicht nur das Gewissen, das sich um Nachhaltigkeit sorgt. Sondern auch die von steigenden Lebensmittelpreisen gebeutelten Portemonnaies.

Konsum: Vom Preis- zum Wertevergleich
Bewusste Konsumenten begnügen sich nicht mehr mit einem grünen Punkt, sie wollen gleich den ganzen sozialen, ökologischen und moralischen Mehrwert der Produkte vergleichen können. Das Vergleichen gehört heute dank Preissuchmaschinen wie comparis.ch oder guenstiger.de gewissermassen zur Einkaufsroutine. Doch der Preis allein reicht nicht mehr, Produkte müssen auch gesund, nachhaltig und fair sein. Der Kaufentscheid wird dadurch komplexer: Was ist besser, Biotreibstoff für mich oder günstige Grundnahrungsmittel für alle? Biozucht- oder Wildfang-Fisch? Regionalförderung oder Entwicklungshilfe? Für diese komplexeren Entscheidungen müssen auch die Vergleichsdienste komplexer werden. Ihre nächste Generation wird darum nicht nur zeigen, was billiger ist, sondern auch gesünder, besser für die Umwelt und für die Gemeinschaft. Erste Beispiele sind bereits auf dem Markt: Wellternatives etwa bewertet die Speisekarte von Schnellimbiss-Restaurants nach Gesundheitskriterien, und der Green Concierge Service bietet eine umfassende Beratung für einen klimafreundlichen Lebensstil an: vom persönlichen Immobilien-Audit mit Infrarot-Wärmebildern über Luftdurchlässigkeitstest für Türen bis hin zu einem kompletten Emissionseinsparungsplan.

Ökonomisierung: Von Freizeit zu keine Zeit
Unsere freie Zeit wird knapper und knapper, und wir sind machtlos. Das verdanken wir den Firmen, die ihre Kunden zu Mitarbeitern machen. Schon lange schrauben wir unsere Möbel in zig Millionen von Arbeitsstunden selber zusammen. Heute aber sind wir zudem unsere eigene Bankfiliale, beraten einander in virtuellen Foren und erstellen online in einem nie da gewesenen Ausmass Wettbewerberanalysen. Outsourcing geht heute nicht nach Bangalore, sondern nach Bangerten und Balterswil. Die nötigen Kompetenzen eignen wir uns selbstverständlich «freiwillig» in der Freizeit an – was gleich den zweiten grossen Zeitvernichter entlarvt, die permanente Selbstverbesserung. Lebenslanges Lernen ist nur ein Teil der Anstrengungen, um im zunehmend kompetitiven Alltag bestehen zu können. Immer mehr Zeit verwenden wir auch auf unseren Körper: Botoxbehandlungen in den Mittagspausen und Schönheitsoperationen in den Ferien sind Wachstumsmärkte. Für Erholung, Kontakt und Hobbys aber, denen einst unsere Musestunden galten, bleibt bei der alles durchdringenden Ökonomisierung kaum mehr Platz.

Restaurateure: Vom Gastwirten zu Netzwerkern
Beim Essen begegnen wir einander, Gasthäuser lieferten uns dazu lange die ideale Plattform. Doch unsere Arbeits- und Lebenssituation wandelt sich: Die Wege werden länger, der Zeitdruck wächst, mehr Frauen sind erwerbstätig, Familienstrukturen bilden sich neu, und der relative Wohlstand steigt. Zwar verpflegen sich dadurch immer mehr Leute ausser Haus – aber immer öfter alleine. Und ohne Begleitung in einem Restaurant zu sitzen, ist vielen unangenehm. Wirtshäuser müssen sich darum als Drehscheiben des Gemeinschaftslebens neu erfinden. Soziale Online-Netzwerke wie Myspace, Facebook oder Xing zeigen, wie gross unser Bedürfnis nach Gemeinschaft und Kontakt ist. Erfolgreiche Restaurants werden sich in Zukunft durch einen hohen «linking value» auszeichnen: Sie vernetzen Menschen einfach und ungezwungen und schaffen so sozialen Mehrwert.

Wissenstransfer: Von Mutter zu mutter.com
Arbeitstätige Mütter und immer günstigere Fertigungsmethoden haben ein unerwartetes Vakuum geschaffen: Sie gefährden den generationenübergreifende Wissenstransfer von Traditionsrezepten und Strickanleitungen. Dabei wächst schon seit einer Weile die Sehnsucht nach Kniffen aus Grossmutters Zeiten und Tricks aus Mutters Küche. Inmitten von Massenproduktion und -konsum entdecken immer mehr Menschen Qualitäten einer guten, alten Zeit. Das haben verschiedene Anbieter erkannt und bieten uns, was wir von unseren eigenen Grossmüttern nicht mehr mit auf den Weg bekommen. «Mutterland» in Hamburg versorgt uns mit «traditionellen Königsberger Klopsen». Der Singapurer Dienstleister «I love mother» bietet berufstätigen Städtern traditionelle Rezepte verschiedenen Schwierigkeitsgrads zur Auswahl, die gerüsteten und geschnittenen Zutaten werden samt Kochanweisungen per Lieferservice vorbeigebracht. Und auf Portalen wie «Netgranny» stricken Grossmütter Socken gegen Geld. So unterstützt ausgerechnet das neuzeitliche Web 2.0 die Renaissance altmodischen Kunst- und Kochhandwerks und hilft, Traditionen zu bewahren.

Medienkontakt:
Alain Egli
Head Communications
GDI Gottlieb Duttweiler Institute
Telefon: +41 44 724 62 78