GDI: In Ihrem neusten Buch «Technocracy in America» schlagen Sie die «Direkte Technokratie» als ideale Regierungsform vor. Wie können wir uns eine solche direkte Technokratie vorstellen?
Parag Khanna: Die direkte Technokratie vereint die Vorteile der Schweizerischen direkten Demokratie mit den Stärken von Singapurs technokratischem System. Die Bürgerbeteiligung spielt bei allen Themen eine entscheidende Rolle, aber die Regierung hat auch die Möglichkeit, die Rückmeldungen der Bürger mit Daten und Szenarien zu ergänzen, um das beste Vorgehen festzulegen. Die Regierung bleibt dem Volk gegenüber demokratisch verpflichtet, aber das Volk weiss, dass die Welt sehr komplex ist und einfache Mehrheitsentscheidungen nicht immer das beste Ergebnis hervorbringen.
Laut Ihnen sollte sich das politische System weniger auf Demokratie konzentrieren, sondern lieber auf eine gute Staatsführung: Was bedeutet das für Europa?
Es gibt keinen Kompromiss. Gute Demokratie ist Demokratie und mehr. Eine von drei Dutzend Variablen, die man zur Messung guter Staatsführung heranziehen kann, ist der Grad an Bürgerbeteiligung (Demokratie). Aber es gibt noch weitere Faktoren wie Pressefreiheit, Rechtstaatlichkeit, Qualität des öffentlichen Dienstes, Kapazität der Verwaltung, und so weiter. Europäische Länder schneiden sehr gut ab, was Demokratie und Staatsführung anbelangt. Was sie hingegen brauchen, ist die Fähigkeit, langfristige Entscheidungen zu treffen auf nationaler und regionaler Ebene.
Wie können Daten Ländern zu ökonomischem Fortschritt verhelfen, und wie sähe eine solche Datensammlung aus?
Um einen Staat gut zu führen, ist es zwingend notwendig, die Bedürfnisse der Bevölkerung mit Hilfe von Daten zu verstehen. Ökonomischer Fortschritt ist ein Hauptziel. Beispielsweise können Daten einen Stellenabbau aufgrund von Automatisierung oder Outsourcing in bestimmten Branchen voraussagen. So ist es möglich, schon im Vorfeld in Zusammenarbeit mit diesen Branchen und mit Bildungseinrichtungen Arbeiter umzuschulen. Deutschland und die Schweiz machen das natürlich schon. Amerika noch nicht. Wenn ein bestimmtes Versäumnis den Aufstieg von Donald Trump erklärt, dann ist es dieses!
Neben anderen Dingen ist es wohl die geringe Grösse, die es der Schweiz und Singapur leicht machen, politische Entscheidungen umzusetzen und eine prosperierende Wirtschaft aufrecht zu erhalten. Wie gut lässt sich das Vorgehen dieser zwei Staaten auf grössere Länder oder die EU anwenden?
Das lässt sich hervorragend übertragen! Es ist ein Mythos, dass sich das Vorgehen von kleinen Staaten nicht auf grosse übertragen lässt. Tatsächlich müssen grosse Staaten von kleinen lernen, um zahlungsfähig zu bleiben, sonst werden sie von den hohen Kosten der immer grösser werdenden Bürokratie in den Bankrott getrieben. Das ist das, was in Amerika passiert. Die Einführung des Datenaustauschs im Gesundheitssystem beispielsweise, egal in welchem Land, verursacht immer die gleichen fixen Kosten. Es kostet nichts zusätzlich, wenn man Daten hinzufügt. Daten sind kostenlos!
Für die USA schlagen Sie eine kollektive Präsidentschaft vor, nach Schweizer Vorbild. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein ganzes politisches System revolutioniert wird, welches über mehrere hundert Jahre gewachsen ist?
Die Wahrscheinlichkeit ist leider sehr gering. Wenn ein System nicht lernt, mit Komplexität umzugehen, wird es entweder scheitern oder kollabieren oder beides.
Heisst das, es braucht auch ein neues Bildungssystem?
Absolut. Ich glaube, der einzige Weg, das Bildungssystem zu verbessern, ist es, die Wahlpflicht einzuführen. Wenn Wahlen gesetzlich bindend wären, würden die Bürger automatisch einen Anreiz haben, mehr über das zu erfahren, worüber sie abstimmen. Aktuell haben wir im Westen schlecht informierte Wähler und eine niedrige Wahlbeteiligung – eine fatale Kombination.
Sie proklamieren, dass die Demokratie in den USA unwiderruflich gestört sei. Wenn Sie auf einem leeren Blatt Papier anfangen könnten, wie würden Sie die US-Regierung aufstellen?
Mein Buch ist voll von konkreten Ideen, lassen Sie mich hier nur ein paar erläutern. Die kollektive Präsidentschaft ist entscheidend, damit die Exekutive besser funktioniert. Dann ist es nötig, den US-Senat durch eine Versammlung der Gouverneure zu ersetzen, weil der Senat überflüssig ist und Gouverneure die besser ausgebildeten Verwaltungsbeamten sind. Sie wissen, wie man grosse Gebiete und Bürokratien managt und Vorhaben in die Tat umsetzt. Ich glaube auch, dass der öffentliche Dienst wieder zu seiner alten Stärke und seinem alten Status zurückfinden muss, und dass unabhängige Experten Richter nominieren sollten. Ich habe noch viele weitere Ideen, aber da wahrscheinlich keine dieser Ideen schnell umgesetzt wird, können wir mit ein paar wenigen anfangen.
In «Technocracy in America» schreiben Sie: «Westliche Gesellschaften müssen ihre politischen Systeme neu erfinden, ansonsten ist es egal, wer ihre gewählten Anführer sind.» Aber wären Trump, May oder Le Pen gewillt, ihre Regierung umzustrukturieren hin zu einer demokratischen Technokratie?
Dies sind Fragen, in die der Präsident, oder das Staatsoberhaupt, eingebunden sein muss, aber es kann nicht nur von ihren Entscheidungen abhängen. Wir leben nicht mehr zu Zeiten Napoleons. Wir brauchen einen verfassungsrechtlichen Reformprozess, der von Legislative, Provinzen, Gerichten, Bürgerbewegungen und anderen Anspruchsgruppen initiiert wird, um die Regierung umzugestalten. Natürlich kann das in keinem Land ohne die Unterstützung der Exekutive durchgesetzt werden, aber der Plan an sich kann nicht von Trump oder Le Pen kommen.
Welche Länder sind nach der Schweiz und Singapur einer direkten Technokratie am nächsten? Und wo stehen die USA auf dieser Skala?
Das ist eine grossartige Frage. Kein Land ist perfekt. Ich habe ein Modell entworfen aus den besten Praxisbeispielen vieler Regierungen, vor allem der Schweiz und Singapur, die ohne Zweifel die zwei besten sind. Aber wir können auch von Deutschland, China, Finnland und vielen anderen Ländern etwas lernen.
Die vom GDI herausgegebene deutsche Fassung von Parag Khannas Buch wird an der Konferenz «Tyler Cowen & Parag Khanna at GDI» exklusiv vorgestellt.