Eine Suchmaschine fürs Morgen

Was die Kristallkugel nicht schafft, kann der Daten-Cloud gelingen: herausfinden, was in Zukunft geschehen wird. Dem Prognose-Markt steht eine ähnlich rasante Entwicklung bevor wie dem Such-Markt in den letzten zwei Jahrzehnten.
29 Mai, 2019 durch
Eine Suchmaschine fürs Morgen
GDI Gottlieb Duttweiler Institute
 

«Predictions as a Service. Within one day. High quality guaranteed.» Das verspricht Endor auf seiner Webseite. Das Unternehmen mit Sitz in Tel Aviv, 2014 von Mitarbeitern des MIT Media Lab gegründet, versucht, aus vorhandenen Daten auf zukünftige Entwicklungen zu schliessen. Endors im April 2019 veröffentlichtes «Prediction Protocol» soll, so CEO Yaniv Altshuler, «Unternehmen jeder Grösse Zugang zu bezahlbarer Predictive Analysis bieten».

Eigentlich ein verführerischer Gedanke: Man stellt eine Frage an die Zukunft, und erhält eine Antwort. Ein jahrtausendealter Menschheitstraum ginge damit in Erfüllung. Etwas erkennen können, das es noch gar nicht gibt. Etwas berechnen können, das noch gar nicht existiert – das klingt sensationell. Doch je mehr Daten man zur Verfügung hat, desto mehr wird die Sensation zum Alltag. Zumindest bei einigen Themen schliessen Googles Algorithmen schon heute aus der Häufigkeit aktueller Suchanfragen auf bevorstehende Ereignisse: Je häufiger nach dem Begriff Kurzarbeit gesucht wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass demnächst die Arbeitslosigkeit steigt, und je mehr Medikamente gegen Husten, Schnupfen, Fieber gegoogelt werden, desto wahrscheinlicher steht eine Grippe-Epidemie kurz bevor.

Aber Alex Pentland geht noch einen Schritt weiter. Der MIT-Professor und Endor-Mitbegründer will auf die Zukunft aus Daten schliessen, die so ziemlich nichts mit dem Thema zu tun haben müssen, das gerade gefragt ist. «Man kann alle Datenspuren, die Menschen hinterlassen, für Prognosen verwenden. Einmal haben wir aus der Müllmenge, die Unternehmen produzieren, darauf geschlossen, wann sie ihr nächstes neues Produkt auf den Markt bringen.»

Theoretische Grundlage dafür ist Pentlands Begriff der «Social Physiscs». So unberechenbar menschliches Verhalten und soziale Phänomene auch erscheinen mögen, unterliegen sie doch berechenbaren Faktoren. «Social Physics erforscht und nutzt statistische Gesetzmässigkeiten, um Aussagen darüber zu treffen, wie Trends oder Moden beginnen und enden.» Je mehr Daten über soziales Verhalten gesammelt werden, desto besser können auch die Schlüsse sein, die sich daraus ziehen lassen.

Für Dorothea Wiesmann entsteht hier eine entscheidende Position für einen ganzen neuen Wirtschaftszweig. Die Leiterin der Abteilung Cognitive Computing & Industry Solutions am IBM Forschungszentrum in Zürich sieht bei der Prognose-Branche, ähnlich wie bei der Search-Branche, denjenigen im Wettbewerbsvorteil, «der die Daten hat, sie zusammenführt und für ihre Nutzung Modelle mit entsprechender Rechenleistung bauen kann».

Für Alex Pentland ist das eine Verheissung. Er schwärmt von einer «Lagerstätte für alle Arten von Daten, mit deren Hilfe jeder das tun kann, was heute nur die reichsten Hedge-Fonds können: überall nach Signalen suchen, die eine Zukunftsprognose ermöglichen.» Aber schon die Verwendung des Begriffs «Lagerstätte» deutet auf ein Problem hin, das lösen muss, wer ein Google für Prognostik werden will. Denn um sich so der Zukunft anzunähern, werden nicht nur sehr, sehr viele Daten gebraucht –  sie müssten auch ständig zur Verfügung stehen, um auch für zukünftige Fragestellungen Einsichten zu ermöglichen.

IBM-Forscherin Wiesmann erläutert dieses Problem an einem Beispiel aus dem privaten Bereich. Wer als Single für zwei Wochen nach Ibiza fliegt, könnte von einem Prognose-System wissen wollen, wie die Chancen sind, dort den Partner oder die Partnerin fürs Leben zu finden. «Mit Daten über alle Besucher zu einem bestimmten Zeitpunkt lässt sich wohl eine Wahrscheinlichkeit berechnen, dort im Urlaub Mr. Right zu treffen – und vielleicht sogar, wer er denn sein wird, und wo man ihm am ehesten begegnet.» Kristallkugel meets Dating-App – nur mit dem Unterschied, dass die Dating-App lediglich die Daten all jener Personen nutzt, die einer solchen Nutzung explizit zugestimmt haben. «Wenn ein System Antworten für uns bereithalten soll», gibt Wiesmann zu bedenken, «bedeutet das ja, dass dieses System permanent über die dafür benötigten Daten verfügt. Wollen wir wirklich so viele Daten zur Verfügung stellen?»

Bei der Suche und bei Social Media beobachten die IBM-Forscher, dass die meisten dies bejahen. Dorothea Wiesmann spricht von einem «Blankoscheck», den die meisten User den Anbietern ausstellen. «Einzelpersonen geben ihre Daten weitaus freizügiger zur Verwendung frei, als das Firmen tun. Trotzdem dürfte es auch für sie heikel sein, bei so etwas Wichtigem wie der Zukunft die Verantwortung über die eigenen Daten so vollumfänglich an einen Dritten abzugeben.»

IBM setzt deshalb, anders als Pentlands Endor, auf Lösungen, bei denen das Eigentum an den verwendeten Daten bei ihrem ursprünglichen Eigentümer bleibt. Mit «Multiparty Computation» lassen sich so Daten vieler verschiedener Teilnehmer zusammenbringen und verarbeiten, ohne dass irgendjemand Rückschlüsse auf die Originaldaten ziehen könnte. Insbesondere in wettbewerbsintensiven Branchen kann eine solche Technologie hilfreich sein, um Prognose-Tools über Unternehmensgrenzen hinaus zu nutzen. Wiesmann: «Wenn wir beispielsweise ein Modell bauen, um für eine Textilfirma einen Fashion-Forecast zu machen, dann gehört der dabei erreichte Algorithmen-Fortschritt zu IBM. Aber die Daten, mit denen wir dabei arbeiten, gehören weiterhin der Firma, für die wir arbeiten. Wir können Daten aggregieren, um über alle Fashion-Labels hinweg einen Zukunftstrend festzustellen – aber die Daten bleiben bei den Kunden.»

Den Wettlauf um den Search-Markt gewann Google damit, dass seine Suchergebnisse für den User besonders gut passten. Beim Wettlauf um den Prognose-Markt hingegen dürfte, so Dorothea Wiesmann, eine andere Qualität den Ausschlag geben: die Treffsicherheit der Prognosen. «Wer die Zukunft am besten vorhersagen kann, der wird den stärksten Mehrwert im System bringen und damit am attraktivsten für die Nutzer sein.» Das Rennen ist offen.

Dorothea Wiesmann spricht an der Konferenz «The Power of Predictions – Wie intelligente Maschinen Entscheidungen beeinflussen werden» vom 4. Juni 2019. Jetzt anmelden!

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