In Ihrer neuen Studie behaupten Sie, Händler müssten wieder lernen, ihre Kunden zu verführen. Aber wollen Kunden heute überhaupt zum Kaufen verführt werden?
Wenn man die Kunden fragt, sagt wohl jeder Nein. Denn der Begriff der Verführung ist im Konsum tendenziell negativ besetzt. Alles, was unser Begehren weckt, unterliegt grundsätzlich dem Verdacht, unser Bewusstsein zu manipulieren. Doch Tatsache ist: Wir kaufen weiter – und dies, obschon unsere Grundbedürfnisse längst gedeckt und unsere Kühl- und Kleiderschränke randvoll sind. Eine Markenjeans, ein iPad oder ein Bio-Joghurt lassen uns von einem besseren, schöneren und gesünderen Leben träumen. Aus solchen Träumen entwickeln sich immer wieder neue Begehren, die wir uns zu erfüllen versuchen. In diesem Sinne ist Shopping, eine unserer beliebtesten Freizeitbeschäftigungen, eine Aufforderung an die Händler, uns zu verführen.
«Verführung» ist also ein ambivalenter Begriff. Aber was bewegt uns stärker, die Aussicht auf süsse Befriedigung oder das schlechte Gewissen danach?
Bekannte Verführungsmythen wie jene der biblischen Eva haben das ewige Schwanken zwischen Sollen und Wollen versinnbildlicht. Dort wird die Verführung als böse und gefährlich wahrgenommen. Wir erleben eine Verführung aber ebenso als reiz- und lustvoll. Wer sich generell zucker- und fettarm ernährt, geniesst ein Stück Torte als bewusste Übertretung umso mehr. Insbesondere die Werbung spielt gerne mit dieser Ambivalenz zwischen Lust und Sünde: «Gönn dir was!» Und erfolgreiche Verführer im Handel müssen natürlich dafür sorgen, dass ihre Kunden Befriedigung statt Bereuen verspüren.
Wer verführt wird, lässt das gerne und wissentlich mit sich tun. Wie schaffen es Retailer, ihre Kundschaft in ihren Laden zu verführen?
Das erste Objekt der Begierde ist die Konsumentin, der Kunde – mit diesem Verständnis fängt künftig alles an. Begreift und behandelt der Händler seine potenziellen Kunden als solche, dann kann in der Folge auch sein Produkt zu dem Objekt der Begierde seiner Käufer werden. Oder genauer: Die Rolle des Handels liegt künftig sehr viel stärker im Herstellen von Beziehungen, weniger nur im reine Abwickeln des Geschäfts. Die Beziehung zu und das Interesse für den Kunden bilden die Basis einer erfolgreichen Verführung.
Eine Verführung kann dauern. Der oder die Verführende muss unter Umständen Ausdauer an den Tag legen. Haben wir als Kunden in Zeiten sekundenschneller Online-Käufe überhaupt noch Geduld? Können wir überhaupt noch auf das Objekt unserer Begierde warten?
Tatsächlich haben wir uns mittlerweile daran gewöhnt, alles sofort, immer und überall kaufen zu können Die steigende Geschwindigkeit des Einkaufsaktes hat unsere Ungeduld gefördert. Wenn wir uns heute einen Song kaufen wollen, drücken wir auf den Knopf und schwupp - bereits ist er gedownloadet. Das ist zwar praktisch, gleichzeitig geht mit der Allzeitverfügbarkeit auch die Vorfreude verloren. Und die ist ja bekanntlich die schönste Freude. Deshalb experimentieren beispielsweise die Luxusmarken auch wieder mit künstlicher Verknappung. Denn wer wochen- oder monatelang auf eine handgefertigte Uhr aus der kleinen Manufaktur wartet, wird sich dann vermutlich auch länger an ihr erfreuen.
Gammelfleisch, Kinderarbeit, Label-Betrug: Etliche Händler und Hersteller kämpfen nach Skandalen darum, das Vertrauen ihrer Kundschaft zurückzugewinnen. Wie kann das Konzept der Verführung dazu beitragen?
Die Aufdeckung solcher Skandale hat gezeigt, Unternehmen können im Zeitalter des Web 2.0 nichts mehr verheimlichen. Millionen von Augen im Netz zu täuschen, ist praktisch unmöglich. Der Zeitgeist der Transparenz, die neue Vorsicht der Konsumenten, ihr grundsätzliches Wissen um den Verführungsprozess und vor allem ihr Wunsch nach Vertrauenswürdigkeit lassen gewissermaßen die Not zur Tugend werden und bringen einen neuen Typus des Verführers hervor. Er lockt nicht mit Überversprechen, sondern beeindruckt mit kompetenter Beratung und mit echtem Charme.
Warum verführen uns die Versprechen wie «Hausgemacht» oder «Handarbeit» trotzdem so sehr?
Wir verbinden diese Labels mit der romantischen Vorstellung von Sinnlichkeit und Emotionalität. Die industrielle Produktion hat zwar die Preise verbilligt und das Angebot vergrössert. Dennoch hegen wir Vorbehalte gegen die Industrie. Selbergemachte Konfitüren oder handgeschreinerten Möbel verbinden wir hingegen mit einem «guten» Konsum, der uns positive Gefühle ermöglicht.
Welches sind die wichtigsten Punkte für eine erfolgreiche Verführung?
Eine erfolgreichen Verführung besteht erstens aus einer geschickten ästhetischen Inszenierung: Sie brauchen ästhetische Produkte, schöne Verpackungen und glamouröse Räume. Hinzu kommt psychologisches Geschick. Eine gute Serviceleistung, kompetentes und charmantes Verkaufspersonal, das wird heute mehr geschätzt denn je. Besonders wichtig ist ein echtes Interesse an der Kundschaft. Welche Wünsche hegt eine Kundin? Wieso kommt ein Kunde überhaupt in meinen Laden? Das bedingt aber, dass man seinen Kunden auch zuhört. Verführung ist ein komplexer Prozess, keine schnelle Eroberung.